
Auf Hauptverkehrsachsen kann eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 auf 30 km/h für den motorisierten Verkehr rein rechnerisch tatsächlich zu kleinen Zeitverlusten führen. Allerdings entscheidet das vorgegebene Tempolimit nicht allein darüber, wie schnell jemand vorankommt. Innerorts gibt es meist unterschiedliche Faktoren, die den Strassenverkehr verlangsamen oder ausbremsen können – etwa Lichtsignale, ein- und ausparkende Autos, Lieferwägen, die umliegende Geschäfte mit Waren versorgen, oder Schulkinder, die die Strasse überqueren müssen. Bei Tempo 50 herrscht dann oft Stop-and-Go-Verkehr. Bei Tempo 30 hingegen fliesst der Verkehr bei guter Gesamtplanung ruhiger.
Machen wir ein Rechenbeispiel: Angenommen, der Arbeitsweg beträgt insgesamt 15 Kilometer. Davon führen 12 Kilometer über Strassen ausserorts und 3 Kilometer über Strassen innerorts. Bei Tempo 50 werden für die Streckenabschnitte innerorts 3,6 Minuten benötigt, bei Tempo 30 sind es 6 Minuten. Der Zeitverlust beträgt hier also 2,4 Minuten. Auf den gesamten Weg gesehen würde sich die Fahrtzeit entsprechend von 12,6 Minuten auf 15 Minuten verlängern. Doch auch hier gilt: Es handelt sich um eine rein theoretische Berechnung, die Einflussfaktoren wie kreuzende Fahrzeuge, Stau durch zu viele Autos zur selben Zeit auf derselben Strasse, Ampeln oder Lieferverkehr nicht berücksichtigt. Die Temporeduktion ist also nicht der alleinige Massstab für die tatsächliche Fahrzeit.
Gunnar Heipp ist Professor für Verkehrsplanung an der OST – Ostschweizer Fachhochschule und leitet seit 2021 das IRAP Institut für Raumentwicklung.  Zu seinen aktuellen Projekten zählen das SNF-DUT-Forschungsprojekt «MobinFact» zur 15-Minuten-Stadt, das Netzwerk Verkehrsdrehscheiben, und Gesamtmobilitätskonzepte für Städte wie Lörrach oder Helsinki.
Weitere Projekte sind das Verkehrskonzept für das ESAF im Glarnerland sowie die Summer School zur IBA München 2024–2034. Zuvor war Heipp langjährig in leitenden Funktionen bei den Stadtwerken München tätig, zuletzt als Bereichsleiter für Strategische Planung. Seit 2017 ist er dazu selbstständig als Berater im europäischen Ausland tätig. Seine fachlichen Schwerpunkte umfassen integrierte Mobilitätskonzepte, Infrastrukturplanung, Strassenraumgestaltung, Klimaschutz sowie Innovationsmanagement – mit besonderer Expertise in ÖV-Konzepten, Fussverkehr, Mobilitätsmanagement und Verkehrsdrehscheiben.
Lange Zeit gab es in der Schweiz keine festen Geschwindigkeitsbegrenzungen. Jeder durfte so schnell fahren, wie er wollte. Aufgrund der zunehmenden Verkehrsdichte und der steigenden Zahl von Verkehrsopfern trat 1959 das Strassenverkehrsgesetz in Kraft. Dieses schrieb innerorts zunächst eine generelle Höchstgeschwindigkeit von 60km/h vor. Ab 1984 fand innerorts flächendeckend eine Reduktion auf 50 km/h statt. Seit den 1990er-Jahren gibt es auch zunehmend Tempo 30. Treiber dieser Entwicklung waren schon damals hauptsächlich die Städte.
In der Diskussion um Tempolimits spielten stets zwei Argumente eine zentrale Rolle: Der Schutz der Umwelt, aber vor allem auch die Erhöhung der Verkehrssicherheit. Die Zahl der Verkehrstoten ist im Vergleich zu früher glücklicherweise gesunken. Dennoch verlieren auch heute noch jährlich über 200 Menschen ihr Leben auf Schweizer Strassen, darunter viele, die innerorts zu Fuss oder mit dem Velo unterwegs sind. Mit der «Vision Zero» verfolgt der Bund seit Jahren das Ziel, die Zahl der Verkehrstoten insgesamt auf unter 100 zu senken. Gerade auch vor diesem Hintergrund ist es schwer nachvollziehbar, warum Tempo 30 einen schweren Stand hat und oft so ideologisch und polarisiert diskutiert wird. Denn eigentlich geht es um ein Sachthema. Geschwindigkeit ist letztlich reine Physik.
Bei Tempo 30 halbiert sich der Bremsweg im Vergleich zu Tempo 50 nahezu und die Gefahr schwerer Unfälle reduziert sich deutlich. Diese Zusammenhänge beruhen auf klaren physikalischen Gesetzmässigkeiten. Wer übergeordnete Ziele wie die Rettung von Menschenleben und den Schutz der körperlichen Unversehrtheit ernst nimmt, müsste dem Umfeld angemessene Geschwindigkeiten im Strassenverkehr als selbstverständlich ansehen – vor allem an belebten Orten, wo viele Menschen wohnen und arbeiten. In vielen anderen Bereichen unserer Gesellschaft akzeptieren wir strengere Auflagen – etwa im Brandschutz oder bei Bauvorschriften. Warum also nicht auch im Strassenverkehr? Tiefere Tempolimits haben nicht zuletzt auch eine ökonomische Dimension. Es liessen sich dadurch Millionen an Unfallkosten sparen und Hunderttausende von unfallbedingten Fehltagen verhindern. Auch auf die Gesundheitskosten hat es einen positiven Effekt, da Lärm und Emissionen bei Tempo 30 stark abnehmen. Es geht also keineswegs darum, Autofahrende zu drangsalieren, sondern darum, lebenswerte Bedingungen zu schaffen, unter denen sich alle Verkehrsteilnehmenden gut und sicher bewegen können.
Letztlich hängt die persönliche Haltung zu diesem Thema stark von der eigenen Biografie und den individuellen Erfahrungen ab. Menschen, die beispielsweise selbst einen Verkehrsunfall erlebt haben, zeigen oft mehr Verständnis für das Anliegen. Auch Familien mit Kindern sind in der Regel stärker für das Thema sensibilisiert. Eine wichtige Rolle spielt zudem, wie man im Alltag unterwegs ist. Wer hauptsächlich im eigenen Auto von Tiefgarage zu Tiefgarage fährt, nimmt die Realität eines Fussgängers oder einer Velofahrerin kaum wahr. Dabei fehlt oft das Gespür dafür, wie gravierend der Unterschied ist, ob ein LKW oder ein anderes Fahrzeug mit 50 oder mit 30 km/h an einem vorbeifährt. Ich plädiere deshalb sehr dafür, auch einmal bewusst die Perspektive der schwächeren Verkehrsteilnehmenden oder der Anwohnenden einzunehmen – und sich zu fragen, welche Auswirkungen das eigene Mobilitätsverhalten auf andere hat. Statt Tempolimits als persönliche Einschränkung zu sehen, sollten wir sie als Ausdruck von Rücksichtnahme begreifen.
Es liegt im Interesse aller, den Strassenraum so zu gestalten, dass möglichst viele Menschen eine gute Alternative zum Auto haben.
Gunnar Heipp, Professor für Verkehrsplanung, Leiter CAS Verkehrswende – Nachhaltige Mobilität
Interessant ist, dass die zum Teil ziemlich drastischen Massnahmen in anderen europäischen Städten lagerübergreifend beschlossen worden sind. Die Entscheidungen basieren dort meist nicht auf Parteibüchern, sondern auf einer gemeinsamen Vision für eine lebenswerte Stadt. Letztlich möchten alle in einem sicheren und angenehmen Umfeld leben. Wenn man sich darauf verständigt, ist es viel einfacher, das Thema sachlich anzugehen. Es ist also wichtig, ein übergeordnetes Ziel im Auge zu haben und sich nicht in ideologischen Grabenkämpfen über einzelne Massnahmen zu verlieren. Wenn wir zum Beispiel ein Gesamtverkehrskonzept erstellen, tauschen wir uns zuerst mit den unterschiedlichen Anspruchsgruppen aus und klären deren Bedürfnisse. Davon ausgehend werden die einzelnen Massnahmen für die Strassenraumgestaltung abgeleitet. Oder noch besser ein Zukunftsbild für die eigene Gemeinde: auch hier wünschen sich fast immer alle Bürgerinnen und Bürger Sicherheit, attraktive öffentliche Räume, Schutz vor Strassenlärm und sichere Schulwege.
In der Schweiz fehlt es nicht an guter Praxis. Aber unsere Rechtslage ist nach wie vor sehr autoorientiert. Zwar gab es in den letzten Jahren Fortschritte, doch die aktuelle politische Entwicklung droht diese wieder rückgängig zu machen. Der Bund möchte mit der neuen Tempo-30-Verordnung die Kompetenzen von Kantonen, Städten und Gemeinden einschränken. Dabei wäre es wichtig, vor Ort über lokale Gegebenheiten entscheiden zu können, da auch die Auswirkungen hauptsächlich lokal zu verarbeiten sind: persönlich, fachlich, politisch.
Grundsätzlich muss eine Strasse tempogerecht gestaltet sein. Das bedeutet: Eine Strecke, auf der Tempo 30 gilt, soll optisch nicht dazu verleiten, schneller zu fahren. Es braucht neben neuen Verkehrsschildern also auch bauliche Massnahmen. Dazu gehören etwa Elemente wie beispielsweise Bauminseln oder reduzierte Fahrbahnbreiten, die das Tempo auf natĂĽrliche Weise drosseln. Es gibt aber auch Ortsdurchfahrten, die ohnehin bereits so unĂĽbersichtlich, eng und steil sind, dass kein schnelleres Fahren möglich ist – in den meisten Bergregionen zum Beispiel.Â
Klar ist: Tempo 30 verringert Lärm und Emissionen und senkt nachweislich die Gefahr schwerer Unfälle. Das kann bewirken, dass sich die Menschen sicherer fühlen und dadurch vermehrt wieder zu Fuss gehen. Ob jemand mit dem Auto, dem Velo, zu Fuss oder mit dem ÖV unterwegs ist, hängt jedoch nicht nur von der Temporegulierung ab. Ebenso wichtig sind gut ausgebaute Fuss- und Velowege sowie ein attraktives öV-Angebot. Ausserdem braucht es relevante Geschäfte und Bildungseinrichtungen in der Nähe, sodass die Menschen im Alltag kurze Wege haben. Erst das Zusammenspiel dieser Faktoren bewegt die Menschen zum Umstieg. Davon profitieren letztlich auch jene, die auf das Auto angewiesen sind – etwa Handwerksbetriebe oder Personen mit eingeschränkter Mobilität. Denn was den Verkehr wirklich ausbremst, sind nicht Tempo 30 oder andere Massnahmen für lebenswerte Städte und Gemeinden. Es sind die vielen Fahrzeuge, die unterwegs sind, obwohl es nicht zwingend nötig wäre. Deshalb liegt es im Interesse aller, den Strassenraum so zu gestalten, dass möglichst viele Menschen eine gute Alternative zum Auto haben.
Der CAS Verkehrswende – Nachhaltige Mobilität an der OST – Ostschweizer Fachhochschule vermittelt die Grundlagen nachhaltiger Mobilität sowohl auf systemischer als auch auf konkreter Ebene – fundiert durch Fakten und praxisnahe Beispiele. Er bietet einen strukturierten Ăśberblick ĂĽber die komplexe Thematik und zeigt auf, an welchen Stellschrauben das Mobilitätsverhalten und das Verkehrssystem in Richtung einer nachhaltigen Gesamtoptimierung verändert werden können. Tempo 30 ist dabei ein Aspekt. Er wird im Zusammenhang mit Verkehrssicherheit und der Aufwertung von Fuss- und Velowegen betrachtet.Â
Die finnische Hauptstadt sorgt derzeit für positive Schlagzeilen: Im letzten Jahr gab es dort kein einziges Verkehrsopfer – ein Hauptgrund dafür sind Geschwindigkeitsbegrenzungen. Auf über der Hälfte der Strassen in Helsinki gilt Tempo 30. Auch in vielen anderen europäischen Städten wurde die Höchstgeschwindigkeit in weiten Teilen auf 30 km/h reduziert. Zum Beispiel in der italienischen Grossstadt Bologna. Dort beträgt die Tempolimite seit 2024 auf fast allen innerstädtischen 30 km/h.