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Produzieren wir unseren Stress selber? - Interview mit Beate Schulze

Wie wir selbst den Stress im Alltag beeinflussen können, haben wir Beate Schulze gefragt. Sie leitet an der Universität Zürich das Trainingsprogramm «Stressmanagement im Berufsalltag» und ist Autorin zahlreicher Publikationen zum Thema Stressbewältigung und Burnout-Prävention. Neben ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit arbeitet sie als selbständige Organisationsberaterin und Coach.

Frau Schulze, haben Sie manchmal Stress?

Ja, sicher. Zwar kann ich mir meine Arbeitszeit und das Arbeitspensum weitgehend frei einteilen. Dennoch ist es manchmal schwierig, Beruf und Kind unter einen Hut zu bekommen, zumal dann, wenn auch mein Mann beruflich unterwegs ist. Sich da zu organisieren und Lösungen zu suchen, ist nicht immer einfach.

Was tun Sie, um nach vollgepackten Tagen wieder neue Energie zu tanken?

Mich mit Freunden treffen – zusammen kochen, essen, reden. Dieses Gemeinschaftsgefühl gibt mir sehr viel. Ausserdem nutze ich jede Gelegenheit, in die Berge zu gehen. Und die Schönheit von Licht, Natur, Architektur und Menschen mit der Kamera einzufangen. Da wird der „Alltagskram“ plötzlich ganz klein.

Wenn viel zu tun ist, versagt man sich solche Auszeiten ja oft.

Das ist weit verbreitet, aber genau das Falsche. Denn damit betrügt man sich um Freizeit und die Möglichkeiten, zu regenerieren, was bei hohem Druck wichtig ist. Deshalb empfehle ich immer: Wenn Sie meinen, für einen Waldspaziergang oder einen Kinoabend jetzt überhaupt keine Zeit zu haben, es gerade dann unternehmen. Es ist eine gute Prävention, um gar nicht erst in den Teufelskreis der Überlastung zu geraten.

Was sind Anzeichen dafür, dass jemand schon in diesem Teufelskreis steckt?

Permanent das zu ignorieren oder fallen zu lassen, was eigentlich wichtig und gut wäre. Ein weiteres Alarmzeichen ist, wenn das, was bislang erholsam war, nichts mehr bringt: Sie gehen abends joggen, fühlen sich danach aber genauso fertig wie vorher.

Erkennen Betroffene ihr Problem in solchen Situationen?

Sich dies einzugestehen, ist schwierig. Gestresst sind wir keine angenehmen Zeitgenossen. Wir sind kurz angebunden und machen Fehler, die sonst nicht passiert wären. Damit wollen wir nicht konfrontiert werden, weshalb wir oft erst einmal abwehrend reagieren, wenn uns jemand darauf anspricht.

Aber warum brüstet sich heute dann jeder damit, im Stress zu sein?

Stress ist auch eine soziale Währung. Ein Zeichen dafür, dass man viel macht und gefragt ist, Ausstrahlung besitzt und Einfluss hat. In einigen Branchen ist es heute üblich, sich nicht mehr mit „Hallo, wie geht’s?“ zu begrüssen, sondern mit „Na, viel zu tun?“ Stress aber hört schlagartig auf, attraktiv und cool zu sein, wenn wir uns gestresst fühlen und offensichtlich darunter leiden. Und uns dann noch jemand dabei ertappt.

Bereits Kinder klagen über Stress. Wie ist das möglich?

Bei Jugendlichen und Erwachsenen ist inzwischen vom Fomo-Syndrom die Rede. Es steht für Fear of missing out, also die Angst, etwas zu verpassen und nicht mithalten zu können. Vergleiche, die durch soziale Medien noch potenziert werden. Eltern setzen dem oft noch eins drauf. Sie fürchten, ihre Kinder nicht optimal genug zu fördern, nach dem Motto: Zwei Nachmittage die Woche ist mit vier Jahren eigentlich genug, aber es gibt so viele tolle Angebote. So haben bereits Kinder eine vollgepackte Agenda. Zumal sich auch das Bildungssystem stark an Wirtschaftsinteressen orientiert und auf Beschleunigung, Leistungsdruck und Wettbewerb setzt.

Stimmt es, dass wir viel von unserem Stress selbst produzieren?

In gewisser Weise ja. Ob wir in einer bestimmten Situation Stress empfinden, hängt davon ab, wie wir sie bewerten. Je nach Persönlichkeit, Biografie und Erfahrung lotet jeder für sich in Sekundenbruchteilen und häufig unbewusst aus, ob seine Ressourcen und Kompetenzen ausreichen, um etwas zu bewältigen. Erst, wenn am Schluss der Eindruck entsteht: Ich fühle mich überfordert, schüttet der Körper Stresshormone aus.

Ein Stück weit kann ich es demnach steuern, ob ich mich gestresst fühle oder nicht?

Ja, wenn es beispielsweise gelingt, zu einer bestimmten Situation erst einmal Abstand zu gewinnen. Also jemand entscheidet, ob er blind der biologischen Stressreaktion folgt oder selbst bestimmt, wie er reagiert. Oft werden dafür einfache Methoden eingesetzt, etwa tief ein- und ausatmen. Feuerwehrleute machen dies, bevor sie ausrücken. Sie halten zehn Sekunden inne und schaffen sich damit Klarheit im Kopf, um richtig zu handeln.

Was stresst Berufstätige in der heutigen Arbeitswelt am meisten?

Es sind – neben der Erwartung, ständig verfügbar zu sein und möglichst schnell Ergebnisse zu liefern – nach wie vor schlechte Beziehungen am Arbeitsplatz. Wenn Konflikte schwelen und Konkurrenzkampf herrscht. Oder dem Einzelnen unklar bleibt, welchen Beitrag er eigentlich leistet. Der permanente Wandel und die Digitalisierung scheinen diese Faktoren noch zu verstärken. Dies alles stresst viel mehr als die zu bewältigende Arbeitsmenge.

Ist es nicht übertrieben, wenn Angestellte immer anerkannt und wertgeschätzt werden wollen?

Nein, wenn Mitarbeitende das Gefühl haben, ihr Engagement wird missachtet oder es werden ihnen Entwicklungs-Chancen verbaut, kann das so viel Stress auslösen, dass damit gesundheitliche Risiken verbunden sind – beispielsweise ist jenes für Herzinfarkt deutlich erhöht.

Sollten wir auch deshalb das Thema Stress ernst nehmen?

Es ist hochrelevant. Stress verursacht für Unternehmen jährliche Kosten von rund 6,5 Milliarden Franken. Gründe dafür sind, dass stressbedingte Krankschreibungen rasant ansteigen und die Absenzen länger dauern. Darüber hinaus sind die Verluste durch Präsentismus gross – Mitarbeitende sind zwar anwesend, rufen aber nicht ihre volle Leistung ab, weil die Belastungen ihre Ressourcen übersteigen.

Die WHO hat unlängst Burnout als Gesundheitsrisiko anerkannt. Was halten Sie davon?

Meiner Ansicht nach ist es eine gute Entscheidung. In der heutigen Dienstleistungs- und Plattform-Ökonomie haben sich die Anforderungen geändert. Beschäftige müssen kognitive Leistung bringen, kommunikativ sein, sich emotional einbringen. Es liegt nahe, dass es auch auf dieser Ebene Verschleiss gibt. Dies anzuerkennen, dürfte darüber hinaus zur Entstigmatisierung beitragen. Denn die Befürchtung, schnell als nicht belastbar abgestempelt zu werden, treibt viele Beschäftigte um und zusätzlich an. Leider auch über ihre eigenen gesundheitlichen Grenzen hinaus.

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