Es ging ihr wie den meisten in der Schule: «Zu Beginn habe ich das Fach Französisch gehasst», erzählt Jolanda Schönenberger. Dies änderte sich mit der neuen Französischlehrerin ab der siebten Klasse. Diese konnte sie motivieren und für Fremdsprachen begeistern. Schönenberger entschied sich für das zweisprachige Gymi mit Englisch und Deutsch. «Und am Gymi hat meine Liebe zu den Sprachen richtig Fahrt aufgenommen», erinnert sie sich zurück. Während eines Sprachaufenthalts in den USA reifte schliesslich der Gedanke, Dolmetscherin zu werden.
Heute lebt die 33-jährige Ostschweizerin in Bern, wo sie auch arbeitet. Wir haben uns in Bahnhofnähe in einem Gartencafé verabredet. Jolanda Schönenberger trägt passend zum heissen Sommerwetter ein geblümtes Kleid und bestellt eine Apfelschorle.
Wie wird man nun Dolmetscherin? Jolanda Schönenberger absolvierte erst an der Uni Genf den Bachelor in Communication Multilingue. Danach ging es zum Masterstudium in Angewandter Linguistik mit Vertiefung in Konferenzdolmetschen an die ZHAW. Mit dem Dolmetschen verhält es sich ähnlich wie mit Leistungssport. Um es zu lernen, muss man regelrecht trainieren. «Wir haben beim Simultandolmetschen im Studium mit kleinen Texten von zwei bis drei Minuten begonnen und uns danach stetig gesteigert», erzählt Schönenberger. Einer der ersten Texte war das Märchen vom Rotkäppchen. «Das kennt man bereits und muss sich nicht zu sehr auf den Inhalt konzentrieren.» An der ZHAW steht ein Raum mit Dolmetschkabinen zur Verfügung, wohin sich die Studierenden für die Übungen zurückziehen können. Danach werden einzelne Aufnahmen von Verdolmetschungen der Studierenden gemeinsam analysiert.
Jolanda Schönenberger hatte durch ihre Sehbehinderung immer eine spezielle Ausgangslage. Während der Kindheit und Jugend verfügte sie noch über rund zehn Prozent Sehkraft. Damit sah sie noch «recht gut», wie sie anmerkt. Sie weiss: «Für normal Sehende klingt das nach wenig, doch für Sehbehinderte zählt jedes Prozent.» Damals trug sie Brillen mit dicken Gläsern und konnte Bücher lesen, wenn sie diese nahe vor das Gesicht hielt. Doch ein halbes Jahr vor der Matura folgten die ersten Netzhautablösungen und der Verlust eines Grossteils ihrer damaligen Sehkraft. Sie konnte noch Farben und Umrisse erkennen, was bei der Orientierung half. Zum Lesen reichte es nicht mehr. Man riet ihr, ein Jahr auszusetzen und sich neu zu orientieren. Sie aber wollte kämpfen. «Ich hatte langsam genug von der Schule und wollte auch mit meiner Klasse zusammen abschliessen.» Also setzte sie sich ins Klassenzimmer und hörte zu. Ihre Kolleg:innen halfen ihr, auch das Gymi kam ihr entgegen, indem sie die Prüfungen zu Beginn mündlich absolvieren konnte. «Es hat mir sehr geholfen in dieser Zeit, ein Ziel zu haben. Auch der Zusammenhalt in der Klasse wurde gestärkt. Das zu erleben, war sehr schön und hat mich motiviert.»
Wie die Schule kam ihr später auch die ZHAW im Studium entgegen. Sie erhielt einen Nachteilsausgleich, wonach sie ein Drittel mehr Zeit bei Prüfungen erhielt. Und vom Konsekutiv-Dolmetschen wurde sie dispensiert. Bei dieser Form lässt man zuerst eine Zeit lang sprechen und dolmetscht anschliessend in die Zielsprache. Eine Form, die in der Praxis nur selten angewandt wird.
2014, während des Masters an der ZHAW, folgten erneut Probleme mit den Augen. Sie musste ins Spital, hatte eine schwere Infektion und darauf folgte wieder eine Netzhautablösung. Die Operation brachte nicht den gewünschten Erfolg und sie musste die Tatsache hinnehmen, dass sie nun vollkommen erblindet war. «Anfangs war das sehr, sehr hart», erzählt sie. «Ich weinte viel. Vor allem, alleine zu sein, war schwierig.» Nach rund zwei Monaten sei das Schlimmste überstanden gewesen. «Ich bin jemand, die schnell nach Lösungen sucht.» Trauer und Niedergeschlagenheit wichen Tatendrang und Pragmatismus: «Es hat mich genervt, nicht selber einkaufen gehen zu können.» Sie wollte selbstständig sein. Sie machte sich auf, suchte neue Strategien, um wieder möglichst eigenständig durch das Leben zu kommen. «Wenn man merkt, dass es vorwärtsgeht, gibt einem das wieder Zuversicht und Mut, um weiterzumachen.»
Haben blinde Menschen einen Vorteil im Erlernen von Sprachen oder im Dolmetschen? «Schwierig zu sagen», meint Jolanda Schönenberger. «Ich funktioniere sicher stark auditiv und lerne gut über das Gehör. Aber unter meinen normal sehenden Mitstudierenden gab es viele, die das ebenso gut beherrschten.» Und so geht es ihr ähnlich wie den meisten Berufskolleg:innen, wenn es sprachliche Hürden bei der Arbeit zu überwinden gilt. «Gerade wenn ich weiss, was in einer Fremdsprache gemeint ist, man dies aber kaum im Deutschen ausdrücken kann, stosse ich etwa an Grenzen. Doch in solchen Situationen gute Lösungen zu finden, ist unser Job.» Es gehe letztlich darum, denn Sinn wiederzugeben und nicht Wort für Wort zu übersetzen. Deshalb wird bei der Ausbildung zum Dolmetschen auch geübt, sich ein Bild im Kopf zu zeichnen vom Inhalt und dieses Bild in der Zielsprache zu beschreiben. «Dies gilt gerade dann, wenn schnell gesprochen wird.»
Beruflich hat Jolanda Schönenberger heute nur wenige Berührungspunkte mit dem Dolmetschen. Allerdings sind ihre Fähigkeiten beim Sprachdienst der Schweizerischen Post, wo sie sich um verschiedenste Aufgaben kümmert, täglich gefragt. Zwar werden die meisten Übersetzungen an externe Lieferanten vergeben. Ihre Aufgabe liegt derweil in der Übersetzungsrevision. «Wir überprüfen etwa die Korrektheit der Übersetzungen und ob die sprachlichen Richtlinien der Post eingehalten werden.» Dazu kommt viel Arbeit im Korrektorat und Lektorat deutscher Texte, ausserdem Sprachberatungen, etwa wenn es um die Benennung neuer Produkte der Post geht, die in allen vier Landessprachen funktionieren müssen. Auch mehrsprachige Untertitelung von Videos gehört dazu. Langweilig wirds nie.
Jolanda Schönenberger arbeitet zwar stärker mit den Ohren als Sehende. Die massgeblichen Unterschiede sieht sie indes bei den technischen Hilfsmitteln. Unverzichtbar ist für sie der Screenreader, der auf ihrem Laptop installiert ist und ihr über Kopfhörer alles vorliest. Ein Spezialgerät ist auch die Braille-Zeile: Sie wird an den Laptop angeschlossen und gibt 40 Zeichen in Brailleschrift wieder, von jener Stelle, wo gerade der Cursor steht. Um den Screenreader bedienen zu können, musste sie sich unzählige Kurzbefehle auf der Computertastatur beibringen. «Inzwischen benutze ich sie für alles, wirklich alles», sagt sie. Es ist ein Wissen, das sie sich über die Jahre hinweg aufgebaut hat. Sogar Tabellen kann sie so erstellen und bearbeiten oder farbig markierte Textstellen anspringen. Etwas Stolz schwingt auch mit, während sie erzählt. Die Brailleschrift erlernte sie erst relativ spät, während des Bachelor, und liest sie deshalb nicht so schnell, wie sie sagt. Hingegen hört sie leidenschaftlich gerne Podcasts in Fremdsprachen. «Es ist eine sehr coole Art, um andere Sprachen zu lernen und darin fit zu bleiben. Andere würden vielleicht täglich fremdsprachige Zeitungen lesen.»
Die Welt, die sich Jolanda Schönenberger erschliesst, ist eine auditive. Sie lebt gut damit und kann ihren Beruf ausüben. Doch einige Barrieren bleiben. «In einem anderen Land kann man sicher viel Vokabular erschliessen, wenn man einfach gewisse Situationen sieht», nennt sie ein Beispiel. Dazu kämen viele kulturelle Unterschiede, die ihr verborgen bleiben. «Ich kenne zum Beispiel das Logo der Migros noch von früher, doch das Walmart-Logo aus den USA kenne ich nicht, bereits damals konnte ich zu wenig gut sehen.» Dasselbe gilt etwa für Architektur. Ein Teil des Allgemeinwissens fällt weg - oder die Aufnahme ist für sie erschwert.
Sehr viele Schranken, die noch vor einigen Jahren unüberwindbar schienen, hat die Digitalisierung mittlerweile allerdings eingerissen. Schönenberger kommt ins Schwärmen: «Die Digitalisierung hat mega viele neue Möglichkeiten eröffnet und ist das Beste, was für blinde und sehbehinderte Menschen passieren konnte.» Alleine das papierlose Büro bedeutet einen gigantischen Evolutionssprung. «Ich kann auch viel mehr Arbeiten erledigen, weil nun alles digital ist.» Auch dass Zeitungen digital erhältlich seien, mache das Leben leichter.
Dennoch findet Schönenberger Kritikpunkte: Gerade die Übersetzungstools, die sie nutzt, sind meist nicht kompatibel mit ihrem Screenreader, also nicht barrierefrei konzipiert. IT-Spezialisten müssen dazu spezielle Scripts für den Screenreader programmieren. Und bei jedem Software-Update besteht die Gefahr, dass sie wieder auf Feld null zurückspringt. Ein grosser Zusatzaufwand, für den die IV aufkommt. Für Schönenberger kein befriedigender Zustand: «Die Tools sollten von Anfang an barrierefrei gestaltet werden.» Es sei ihr bewusst, dass dies eine gesellschaftliche Frage sei. «Doch heute reden alle ständig von Inklusion, da müsste man doch überall so denken.» Ein Kränzchen windet sie in dieser Hinsicht einem so bekannten wie umstrittenen US-Unternehmen: «Apple ist vorbildlich. Sie haben auf allen Geräten eine gute Sprachausgabe, die auch ständig weiterentwickelt wird.» Überhaupt sei das ganze Betriebssystem barrierefrei gestaltet und für sie sehr leicht bedienbar, «da ist Apple den anderen Anbietern einen Schritt voraus und hat von Anfang an mitgedacht».
Kaum ein Wunder, dass letztlich auch für Jolanda Schönenberger das iPhone zum wichtigsten Hilfsmittel im Alltag geworden ist. Sie gerät wieder ins Schwärmen, wenn sie von GPS-Apps oder solchen zur Farbenerkennung erzählt. «Das iPhone ist für mich eine Box voller Hilfsmittel.» Im Zuge der Digitalisierung haben sich auch Communities von Freiwilligen gebildet. So kann man etwa per App unbekannte Freiwillige per Video anrufen, damit sie einem mit ihrem Sehvermögen helfen, ein Problem zu lösen.
Zum Schluss demonstriert sie, wie die Sprachausgabe ihres iPhones Kurznachrichten vorliest. Das Tempo der Computerstimme ist horrend und kaum verständlich. «Am Anfang hatte ich es langsamer eingestellt», sagt sie, «mit der Zeit stellt man immer etwas höher.» Bei manch anderen sei es noch viel schneller. Es zeigt eindrücklich, wie sich die Sinneswahrnehmung von Blinden verschiebt.
Jolanda Schönenberger hat einen kurzen, aber eindrücklichen Einblick in ihre Welt gewährt. Danach lässt sie sich wieder zum Eingang vor dem Bahnhof in Bern zurückführen. Hier kennt sie sich aus, und die Wege trennen sich wieder.
Dieses Porträt ist als Erstpublikation im INLINE August erschienen