Erfolgsrezepte gegen den Arbeitskräftemangel: Kompetenzen statt Titel, Augenhöhe statt Autorität, gelebte Werte statt leerer Worte

In Zeiten des Fach- und Führungskräftemangels greift es zu kurz, wenn Unternehmen lediglich versuchen, vakante Stellen nachzubesetzen. Gefragt ist eine ganzheitliche Strategie, um Talente gezielt zu gewinnen, zu entwickeln und langfristig zu binden. Ein wirksamer Ansatz besteht darin, bei der Rekrutierung den Fokus stärker auf Kompetenzen als auf Abschlüsse zu legen. Wichtig ist zudem ein wertschätzender Umgang mit bestehenden Mitarbeitenden. Das beginnt bereits bei den Lernenden. Sie sind die Fachkräfte von morgen und entscheiden früh, ob sie dem Betrieb verbunden bleiben. Und nicht zuletzt sind jene Unternehmen im Vorteil, die Werte glaubwürdig leben und so die Identifikation mit der eigenen Marke stärken. Denn längst gilt: Nicht nur die Arbeitnehmenden müssen von sich überzeugen, sondern auch die Arbeitgebenden.



von Ursula Ammann

 

Der Arbeitskräftemangel hat sich in den letzten Jahren zu einer der grössten Herausforderungen für die Wirtschaft entwickelt. Er ist dabei längst kein Zukunftsszenario mehr, sondern Realität. «In der Schweiz fehlen aktuell fast eine halbe Million qualifizierte Fach- und Führungskräfte auf dem Arbeitsmarkt», sagt Kerstin Helfmann vom IOL Institut für Organisation und Leadership an der OST – Ostschweizer Fachhochschule. Betroffen sind zahlreiche Branchen, darunter allen voran der Medizin- und Pflegebereich, wo ein Zuwachs von 46 Prozent nötig wäre, um den Bedarf zu decken. Aber auch in der IT-Branche herrscht ein massiver Engpass – hier geht es um zehntausende unbesetzte Stellen, die dringend qualifizierte Fachkräfte erfordern.

Heute reiche es nicht mehr, einfach nur die Lücke zu schliessen, wenn jemand kündige, betont Kerstin Helfmann. «Es ist daher entscheidend, frühzeitig Bindungen zu potenziellen Fach- und Führungskräften aufzubauen und in deren Aus- und Weiterbildung zu investieren.» Die Dozentin für HRM und Leadership, die auch als Beraterin tätig ist, stellt oft eine fehlende Verzahnung zwischen Rekrutierung, Ausbildung, Personalentwicklung und Unternehmensstrategie fest. Viele Unternehmen hätten es zudem nicht auf dem Radar, Schlüsselpositionen zu identifizieren. «Wenn diese aber nicht rechtzeitig erkannt werden, besteht im Falle einer Kündigung die Gefahr, dass mit der Person auch das gesamte damit verbundene Know-how verloren geht.»

Lernende als Teil der internen Talentpipeline verstehen

Um Fach- und Führungskräfte zu gewinnen, zu entwickeln und zu binden, gibt es verschiedene Strategien. Ein Ansatz, der zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist die kompetenzbasierte Rekrutierung. Dabei liegt der Fokus weniger auf klassischen «harten» Kriterien wie Abschlüssen oder Stationen im Lebenslauf, sondern auf den tatsächlichen (Schlüssel-)Kompetenzen der Kandidatinnen und Kandidaten. Diese Herangehensweise wird auch in einem aktuellen Innosuisse-Forschungsprojekt zur kompetenzbasierten Rekrutierung untersucht und ermöglicht eine passgenauere Auswahl.

 

 

Lernende wünschen sich eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Man muss ihnen zeigen, dass sie wichtig und wertvoll sind.


Dr. Kerstin Helfmann

Dozentin fĂĽr HRM und Leadership
Kursleiterin CAS HRM 5.0 & Sustainable Governance


Neue Fach- und Führungskräfte müssen aber nicht immer von ausserhalb kommen. Oft finden sich auch innerhalb des Unternehmens geeignete Personen. Eine wichtige Rolle spielen Lernende. «Sie sind keine reinen Befehlsempfänger, die den Betrieb kurzfristig unterstützen, sondern eine zentrale Ressource – die Zukunftsträgerinnen und Zukunftsträger», sagt Kerstin Helfmann. «Unternehmen sollten Lernende deshalb als Teil einer internen Talentpipeline sehen.» Damit gehe einher, ihnen mit dem richtigen Mindset zu begegnen. «Lernende wünschen sich eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Man muss ihnen zeigen, dass sie wichtig und wertvoll sind.»

Eine Massnahme, die unter anderem auf diesem Mindset aufbaut, ist das Reverse Mentoring. Hierbei schlüpfen Lernende in die Rolle der Mentorin bzw. des Mentors und geben ihr Wissen an ältere und erfahrene Führungskräfte weiter. Das hat zum Ziel, den Wissensaustausch zwischen den Generationen zu fördern. 

Ein wertschätzender Umgang, der es Mitarbeitenden jeglichen Alters ermöglicht, sich bestmöglich zu entfalten, ist ein unverzichtbarer Teil einer guten Unternehmenskultur. Und eine gute Unternehmenskultur wiederum bringt entscheidende Wettbewerbsvorteile. Dieses hat sich  auch aus der Impuls-Check-New-Work-Befragung zum Thema «Employee Centricity» lesen lassen. Eine gute Unternehmenskultur fördert die Identifikation mit der Arbeitgeberin, dem Arbeitgeber. Im heutigen «War for Talents» sei dies immer wichtiger, sagt Kerstin Helfmann. Es gehe darum, potenziellen Arbeitnehmenden Werte zu bieten, die sie selbst vertreten – Werte wie Nachhaltigkeit oder Verantwortung zum Beispiel. «Gerade in Zeiten von Digitalisierung und Remote Work sind diese Werte entscheidend, um Mitarbeitenden Orientierung und eine verlässliche Basis im Unternehmen zu bieten. Der Mensch bleibt damit weiterhin eine der wichtigsten und zentralen Ressourcen – die Human Ressource.»

Wertebasiert und mit der Kultur eines Familienbetriebs

Auch die SIGVARIS GROUP kennt die Herausforderung, Fach- und Führungskräfte zu finden, weiterzuentwickeln und zu binden. Das Traditionsunternehmen mit Hauptsitz in St. Gallen zählt rund 1700 Mitarbeitende auf der ganzen Welt. Es ist in erster Linie bekannt für medizinische Kompressionsstrümpfe zur Behandlung von Venenerkrankungen, produziert jedoch auch Kompressionsprodukte für Lymphödem- und Lipödem-Erkrankungen sowie orthopädische Produkte. Hergestellt werden diese neben der Schweiz auch in Frankreich, Polen, Brasilien und in den USA. Die SIVARIS GROUP hat zusätzliche Niederlassungen in Deutschland, Österreich, England, Italien, Kanada, Australien und Mexiko und arbeitet darüber hinaus mit Distributionen in mehr als 70 Ländern auf allen Kontinenten zusammen.

Das Unternehmen befindet sich in einem Transformationsprozess. Ziel ist es, durch eine engere Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Niederlassungen und Produktionsstätten das Potenzial als globales Unternehmen stärker auszuschöpfen, die Komplexität zu reduzieren und Synergien zu nutzen. Auch möchte man die Effizienz und Agilität steigern.

 

Wir haben stark darauf gebaut, dass jede und jeder die Gründe versteht, weshalb wir uns verändern müssen.



Tanja Curiger


Head of Global HR, SIGVARIS GROUP


Tanja Curiger ist Head of Global HR bei der SIGVARIS GROUP, die seit der Gründung 1864 zu 100 Prozent in Familienbesitz ist. «Für uns ist es wichtig, wertebasiert und mit der Kultur eines Familienbetriebs in diesen Prozess zu gehen und immer im Dialog mit den Mitarbeitenden zu sein», sagt sie. Aber wie gelingt es, dass diese Veränderungen von allen akzeptiert und auch mitgetragen werden? «Wir haben stark darauf gebaut, dass jede und jeder die Gründe versteht, weshalb wir uns verändern müssen», erklärt Tanja Curiger. Um den allgemeinen Puls zu spüren, erhebt das Unternehmen in Umfragen jeweils das qualitative Feedback der Mitarbeitenden. Dabei hat sich gezeigt, dass die Mitarbeitenden grossmehrheitlich nachvollziehen können, warum eine Transformation notwendig ist und darüber hinaus auch bereit sind, den Wandel weiterhin zu unterstützen.

Die Begriffe «Talent» und «Potenzial» definiert

«Die SIGVARIS GROUP sieht Wertschätzung und starke Beziehungen als zentrale Erfolgsfaktoren», sagt Tanja Curiger. Dies bedinge, ein attraktives und nachhaltiges Arbeitsumfeld zu schaffen und Mitarbeitende weiterzuentwickeln und zu fördern. So möchte das Unternehmen dem Fach- und Führungskräftemangel mit innerer Stärke begegnen. Das bedeutet auch, Talente und Potenziale frühzeitig zu erkennen und weiterzuentwickeln.

Aber was ist ein «Talent» und wann verfügt jemand über «Potenzial»? Die SIGVARIS GROUP stellt sich gerade diese Frage und arbeitet mit der obersten Führungsstufe daran, diese Begriffe für sich zu definieren.

«Für uns gilt eine Person als Talent, wenn sie zum einen über längere Zeit solide Leistungen vollbringt, Ziele erreicht und unsere Werte lebt», erklärt Tanja Curiger. «Zum anderen zeigt die Person ein Potenzial darin, sich weiterzuentwickeln und findet sich dank einer hohen Lernfähigkeit schnell in einer neuen Rolle und in einem neuen Umfeld zurecht. Nicht zuletzt will sie etwas bewegen und ist bereit dafür, auch neue Wege zu gehen.»


Veränderungsbereitschaft als Schlüsselkompetenz

Die Einstellung, die jemand mitbringt, ist also oftmals genauso wichtig wie Fachwissen. Veränderungsbereitschaft sei sogar eine der Schlüsselkompetenzen auf dem heutigen Arbeitsmarkt, sagt Kerstin Helfmann.

In einer Arbeitswelt, die sich durch Digitalisierung, demografischen Wandel und neue Anforderungen laufend verändert, sind flexible, lernbereite Mitarbeitende gefragter denn je. Wer bereit ist, sich weiterzuentwickeln, neue Aufgaben zu übernehmen und mit Veränderungen umzugehen, bringt nicht nur das nötige Potenzial mit, sondern trägt auch aktiv zur Zukunftsfähigkeit von Unternehmen bei. Fachwissen lässt sich aufbauen – die richtige Haltung hingegen ist oft entscheidend für langfristigen Erfolg.

Weiterbildungen im Bereich Human Resources Management

Herausforderungen wie die digitale Transformation, der demografische Wandel und der Fachkräftemangel prägen das Human Resources Management. Die Weiterbildungen der OST in diesem Bereich vermitteln Fach- und Führungskräften das erforderliche Know-how, um das HRM in ihrem Unternehmen neu zu positionieren sowie strategisch, vorausschauend und innovativ zu gestalten. 

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