14 Tage kein Ton ist «knallharte Bedingung»

Die junge Sopranistin Regula Mühlemann erobert gerade die Bühnen der Welt. Entsprechend viel ist sie unterwegs. Ins Lamento über Reisestrapazen mag sie nicht einstimmen. Doch den Umgang damit musste sie erst lernen.

Es gab schon «schlimmere» Spielzeiten. Seit letztem Sommer war Regula Mühlemann nur rund 15 Wochen von zu Hause fort. Je eine Produktion am Zürcher Opernhaus und eine am Luzerner Theater bescherten den schönen Nebeneffekt, nicht so viel reisen zu müssen. Wobei sie es eigentlich mag: «Neue Länder zu entdecken, Menschen zu treffen, Sprachen zu lernen, war immer eine Leidenschaft von mir.»

Grüsse aus dem TGV

Jedenfalls geht es Regula Mühlemann nicht wie anderen Sängern, die das Reisen regelrecht hassen. Doch musste die an der Hochschule Luzern ausgebildete Sopranistin erst die richtige Balance finden. Was auch viel Weitsicht erfordert.

Mühlemann mag nicht so richtig ins Bild einer klassischen Sängerin passen. Starallüren sind keine auszumachen, sie ist erfrischend offen und zugänglich. Den Gesprächstermin hat sie gleich selber vereinbart, nicht via Agentur. Sie hat noch Grüsse aus dem TGV geschickt. Wenn immer möglich nimmt sie den Zug, weil es ruhiger und entspannter sei als Fliegen, «und ich kann die Zeit für Arbeit nutzen, Mails beantworten oder Liedtexte auswendig lernen». Zum Zeitpunkt des Gesprächs weilt Mühlemann in Paris, am nächsten Abend gibt sie ein Konzert. Ein Telefonat muss reichen. Sie werde selber anrufen – «ich habe im Abo Ferngespräche inklusive». Pünktlich auf die Minute klingelt es. Unverblümt und ehrlich spricht sie über ihr Leben auf den Bühnen der Welt. Und darüber, wie es ist, in Hotels zu leben.

Zu den Gästehäusern hat sie ein ambivalentes Verhältnis. Natürlich bieten sie gewisse Annehmlichkeiten. «Doch wenn es mehr als fünf oder sechs Nächte sind, dann miete ich lieber eine Wohnung.» Die Privatsphäre und der Rückzug würden ihr sonst fehlen. «Es ist schon vorgekommen, dass ich nach einem langen und anstrengenden Konzert in der Verzweiflung Ravioli im Wasserkocher des Hotelzimmers erwärmt habe, weil ich mich nicht mehr aufraffen mochte, um auszugehen.» Auch am Morgen schätzt sie nichts mehr als eine Kaffeemaschine und einen Kühlschrank, «in dem Konfi und Butter stehen». Zimmerservice hingegen ist nicht so ihr Ding.

Wer viel auf Reisen ist, lernt mit der Zeit, was unverzichtbar ist. Das gilt auch für die einfachen, praktischen Dinge. «Man wird zum Routinier. Bei mir steht immer ein halb gepackter Koffer bereit.» Ausser Kleidern ist da alles drin, was sie eben braucht, wie Make-up, Necessaire, Reiseadapter oder Fremdwährungen. Dazu noch ihre persönlichen Begleiter, auf die Mühlemann nicht verzichten will: den kleinen Wasserkocher inklusive Teebeutel, und ganz wichtig: Kopfhörer mit Noise Cancelling. «Eine tolle Erfindung, gerade im Flugzeug sehr praktisch, um die gesamte Lärmkulisse auszublenden.» Echte Reisemarotten hingegen haben sich (noch) nicht eingeschlichen. Sie weiss von anderen Sängern zu berichten, die nur noch mit dem eigenen Kissen reisen oder stets die Lieblingstasse dabei haben.

Sehnsucht nach den Liebsten

Doch gerade die Routine kann bekanntlich mal zu viel werden. Dann kann es vorkommen, dass die Sehnsucht nach dem Zuhause überhandnimmt. Was macht Heimweh für sie aus? «Die Menschen», sagt Mühlemann, ohne zu studieren. Dann überlegt sie nochmals und bekräftigt: «Ich mag meine schöne Wohnung, und wenn ich mit dem Zug in Luzern einfahre, der See und die Berge auftauchen, dann liebe ich dieses Gefühl, heimzukommen. Doch am meisten schwingt dabei wohl mit, dass hier die Menschen leben, die mir nah sind.» Ihr Freund, die Familie, Freunde. Heimweh ist insofern auch eng mit Verzicht verknüpft. «Ich habe schon Geburtstage und Hochzeiten von Freunden verpasst oder ich bekomme via Whats-App-Chat mit, wie man sich zu einem Anlass trifft und ich nicht dabei sein kann.» Sie hat es zu akzeptieren gelernt. «Mittlerweile gehe ich einfach davon aus, dass ich nicht dabei sein werde, wenn etwas ansteht.» Umso schöner sei es, wenn es dann entgegen der Erwartung trotzdem klappt. «So habe ich es einmal nach einem Konzert zurück geschafft und war um drei Uhr morgens an einem Hochzeitsfest und konnte so immerhin noch ein paar Stunden mitfeiern. Das bedeutet mir dann sehr viel.»

Ohnehin legt Mühlemann Wert darauf, die guten Seiten zu betonen: «Ich schätze mich glücklich, dass ich durch meinen Beruf so viel herumkomme.» Auch für die Beziehung sei die Reiserei nicht immer nur eine Belastung. Im Gegenteil. Es ergeben sich Chancen für gemeinsame Erlebnisse. «Mein Freund kommt mich gelegentlich auch ein paar Tage besuchen, wenn ich im Ausland weile.» Chancen, die man nutzen müsse.

Studium vor der Haustür

Während Regula Mühlemann zur grossen Karriere ansetzt und dabei die Welt bereist, erstaunt es, dass sie ihr gesamtes Studium in ihrer Heimatstadt absolviert hat. «Natürlich gab es Leute, die mir sagten: ‹Du musst im Ausland studieren, sonst wird nichts aus dir.› Doch es gab einen einfachen Grund, der dagegen sprach.» Dieser heisst Barbara Locher. Die Sopranistin und Dozentin an der HSLU hatte entscheidenden Anteil an der Entwicklung und am heutigen Erfolg von Mühlemann. Es

passte von Anfang an. «Ich hatte ganz einfach Glück.» Andere hätten eine regelrechte Odyssee hinter sich, bis sie ihren Mentor fänden. «Ich habe mich immer gut weiterentwickelt und gespürt, dass es richtig ist.» Ein Wechsel wurde nie zum Thema. Auch heute holt sie bei ihrer ehemaligen Dozentin gelegentlich Ratschläge, wenn sie in Luzern ist.

Bedacht bei der Karriereplanung

Dass sie diese Spielzeit nicht so viel unterwegs war wie teilweise in früheren Jahren, ist nicht nur dem Zufall oder einer mangelnden Auftragslage geschuldet. Im Gegenteil: Anfragen aus aller Welt treffen fast täglich ein. Umso mehr gilt es, vorsichtig zu sein und mit Bedacht Termine und Karriere zu planen. Oft ist bei jungen Nachwuchskünstlern die Rede vom sogenannten Verheizen. «Viele haben mich davor gewarnt», sagt Mühlemann. «Doch was es wirklich heisst, habe ich erst mit der Zeit erfahren.» Etwa als sie einmal elf von zwölf Monaten weg war von zu Hause. Wie sie verhindert, frühzeitig ausgebrannt zu sein, hört sich paradox an: Sie übernimmt Arbeit, die andere der Agentur überlassen. «Ich prüfe jede Anfrage sehr sorgfältig.» Das bedeutet weit mehr als nur Datenabgleich im Terminkalender. Sie studiert die Literatur, singt eine Opernpartie mitunter durch, vielleicht sogar mit einem Coach. Stellt sich folgende Fragen: «Wie fühlt es sich an? Bin ich dannzumal, also vielleicht in zwei Jahren, bereit für diesen Part, oder ist es noch zu früh in meiner Karriere?» Kommt sie zum Schluss, dass es noch nicht passt, dann lehnt sie schweren Herzens ab, egal wie verlockend ein Angebot ist. «Diese Entscheide kann man nicht einer Agentur überlassen.» So verhindert Mühlemann,

fremdbestimmt zu werden. «Meine Agentur weiss ja auch nicht, was ich brauche, um mich zu regenerieren.» Sie würde dieser auch keine Vorwürfe machen. «Ich sehe es als meine eigene Verantwortung, darauf zu achten, dass ich nicht ans Limit komme.» Das heisst dann eben: nicht jedes Konzert um jeden Preis. Manche Künstler fliegen kreuz und quer durch die Weltgeschichte, «mit Jetlag in beiden Richtungen». Für sie wäre das nichts.

Und wenn sie dann mal nah am Limit sein sollte, dann gibt es noch immer den Rückzugsort, ihr «Heiligtum», wie sie es nennt: das Ferienhaus auf Formentera. Jeden Sommer verbringt sie dort mindestens zwei Wochen. Ein Fixpunkt im Jahreskalender. Gesungen wird 14 Tage lang kein Ton. «Das ist die knallharte Bedingung.» Um diese einzuhalten, plant sie jeweils gleich fix drei Wochen ein. «Sollte ich ein Konzert gleich nach den Ferien haben, muss ich rund eine Woche vorher mit Vorbereitungen beginnen.» Auch diese Regel musste Mühlemann erst lernen. Wenn das Fernweh sich für die Sopranistin in einem Ort manifestiert, dann auf der kleinen Baleareninsel.

Dieser Beitrag ist als Erstpublikation im INLINE vom Mai 2019 erschienen.

ZUR PERSON

Regula Mühlemann (33) ist in Adligenswil aufgewachsen und hat bei Barbara Locher an der Hochschule Luzern Gesang studiert. Bereits früh konnte sie erste Bühnenerfahrungen am Luzerner Theater sammeln. Es folgten Engagements in Venedig, am Opernhaus Zürich und am Festspielhaus Baden-Baden. Zusätzlichen Schub für die Karriere sowie eine grössere Bekanntheit erlangte Mühlemann durch Jens Neuberts Verfilmung der Oper «Der Freischütz» von Carl Maria von Weber, in der sie die Rolle des Ännchens verkörperte. 2012 debütierte sie an den Salzburger Festspielen. Seither war Regula Mühlemann an vielen der wichtigsten Opern- und Konzerthäuser der Welt zu hören. Sie hat mehrere namhafte Preise und Auszeichnungen gewonnen, darunter den Preis der deutschen Schallplattenkritik 2017 sowie 2018 den Opus Klassik als Nachwuchskünstlerin des Jahres in der Kategorie Gesang. Regula Mühlemann lebt in Luzern.

www.regulamuehlemann.com

Kommentare