Von Mindmaps und Snowparks

Gian Simmen ist im Herzen noch immer ein Freestyle-Snowboarder und bewegt sich am liebsten an der frischen Luft. Doch aus dem ehemaligen wilden OlympiaÜberraschungssieger ist längst ein Familienvater und Berufsmensch geworden, der bei den Jungfraubahnen den perfekten Job gefunden hat.

Es ist der perfekte Sommertag im Touristenparadies Interlaken. Strahlende Sonne, blauer Himmel. Feriengäste aus Fernost rollen oder schleppen ihre Koffer von und zu den Zügen am Bahnhof Interlaken Ost. Auf der Flaniermeile entlang der riesigen Höhematte werden Fotos und Selfies geschossen. Wahlweise vor einer Luxusboutique, beim Eingang des ikonischen Hotels Victoria- Jungfrau oder einfach vor einem Rosenbeet.

Touristen an Gleitschirmen

Am Himmel kreisen Gleitschirme, Tandemflüge mit zahlenden Kunden. Sie kommen von Beatenberg her. Mit dem Kleinbus ging es hoch, der Flug hinunter dauert 10 bis 20 Minuten, mit Landung direkt auf der grossen Wiese in der Mitte Interlakens. Ein Highlight, bei dem der Selfiestick nicht fehlen darf. Kostenpunkt? «Keine Ahnung, etwa hundert Stutz oder so», schätzt

Gian Simmen. Es ist – je nachdem ob man auch Fotos oder Videos vom Flug kauft – bis doppelt so viel. Doch Geld spielt hier, bei Blick auf Seen und die majestätisch verschneite Jungfrau, keine grosse Rolle. Gian, der berühmte Schweizer Snowboarder, hat soeben einen Anruf beendet und setzt sich zum Interview auf eine Parkbank an der Höhematte, während die letzten Tandemgespanne gekonnt landen. Für ihn – man ist unter Snowboardern wie unter FHlern natürlich per Du – eine schöne Gelegenheit, aus dem Büro an die frische Luft zu kommen. Das Berner Oberland ist seit mehreren Jahren Heimat des Bündners. Er wohnt mit seiner Frau und vier Söhnen am Thunersee. Seit über fünf Jahren ist er Gesamtverantwortlicher für den Snowpark in Grindelwald sowie Projektverantwortlicher Special Events bei den Jungfraubahnen. Bekannter ist er natürlich unter Snowboard-Interessierten als Stimme im Schweizer Sportfernsehen, wo er als Experte die Freestyle-Wettkämpfe kommentiert. Und wer sich als «Kind der 90er-Jahre» bezeichnet, wird ihn vor allem als ersten Schweizer Olympiasieger in der Snowboard- Halfpipe in Erinnerung haben. Eine Sensation, die bis heute nachhallt. Dazu später. Wettkämpfe fährt der 45-Jährige selbstredend längst nicht mehr. Gleichwohl steht in seinem Linkedin-Profil mitunter «Snowboardprofi – 1996 bis heute». Gibt es etwa eine Senior Tour? «Nein, eine Senior Tour gibt es nicht.» Gian antwortet ernst und nüchtern auf die nicht ganz ernste Frage. «Wie legt man den Begriff des Profis aus?», fragt er zurück. «Wenn man erwartet, dass ein Snowboardprofi noch Wettkämpfe fährt und einen Double Cork steht, dann bin ich es natürlich nicht mehr.» Das Know-how aber ist noch da, auch erhält er Kleider und Bretter von Sponsoren, kommentiert im Fernsehen, steht noch auf dem Brett. «Ich habe ein paarmal überlegt, ob ich meinen Status anpasse, aber für mich macht es so Sinn.» Zumal er zur ersten grossen Generation von Snowboardern in der Schweiz zählte. Doch erst lernte Gian, der als Sohn eines Hoteliers in Valbella, Davos und Arosa aufwuchs, wie alle anderen Kinder Skifahren. Schon da ein Talent? Schallendes Lachen. Mitnichten! «Ich habe es immer gehasst. Die harten Schuhe, die zwei Latten, dazu auch noch Stöcke.» Er habe es zwar brav gemacht, aber nur widerwillig und ungelenk «wie mit einem Hornschlitten».

Immer Zugang zu Sport-Infrastruktur

Sport und Bewegung aber war allgegenwärtig. «Ich war als Kind sehr viel draussen und wir hatten ja durch die Hotels immer Zugang zu einer Infrastruktur. Ob indoor mit Pools und Hallen, Tennisplätze oder auf Bikes.» In Davos wurde Eishockey zu einem wichtigen Hobby in der Familie, doch mehr bei Gians Brüdern. «Ich entdeckte in dieser Zeit das Skateboarden. Das Seitwärtsfahren hat mich fasziniert, ebenfalls das ‹Gumpa›, schon mit dem Velo.» Und als in den 80er-Jahren zunehmend das Snowboard  bekannter wurde, lag das nächste Hobby für den Bergbewohner auf der Hand. 1989 absolvierte Gian einen einwöchigen Kurs, in dem er die Grundlagen lernte. Danach ging es schnell autodidaktisch weiter. In dieser Zeit entstanden die ersten Halfpipes in der Schweiz. «Von da an brauchte ich auch wieder eine Saisonkarte für die Bergbahnen.»

Wettkämpfe, um nicht selber schaufeln zu müssen

Es folgten bald Wettkämpfe, auch international, noch auf der damals jungen, wilden ISF-Tour, die sich vom grossen Skiverband FIS emanzipierte. «Wettkämpfe fuhren wir damals ja vor allem, damit wir zu einer guten Infrastruktur kommen. So mussten wir die Ramps und Kicks nicht selber schaufeln», erklärt Gian. Preisgelder gab es ja kaum. Und dann kam Nagano 1998, die ersten Olympischen Spiele für die Disziplin Snowboard Halfpipe. Alle Augen hier ruhten auf Fabien Rohrer, dem Schweizer Spitzenfahrer. Mit Daniel Franck war ein weiterer grosser Name aus Norwegen am Start. Der absolute Superstar Terje Haakonsen, ebenfalls aus Norwegen, boykottierte den Wettkampf, da er vom Skiverband FIS ausgetragen wurde. Gian hatte niemand auf der Rechnung. «Es regnete wie wahnsinnig», erinnert er sich. Nicht gerade optimale Bedingungen. Trotzdem gelang ihm der perfekte Lauf. Und plötzlich stand da die Eins, Goldmedaille. Eine Zäsur.

«From Zero to Hero»

Nagano war denn auch für ihn das prägendste Ereignis, wenn er zurückblickt. «Aber nicht weil es die Olympischen Spiele waren.» Sondern weil dieser Moment alles veränderte, den Grundstein legte. «Es war mein erster Sieg auf internationaler Ebene, vorher fuhr ich auf der Tour mehr schlecht als recht.» Plötzlich war er in aller Munde. «Ich begann meine Karriere mit einem Sieg auf höchster Stufe, so wie sie andere beenden.» Alle Augen waren auf andere Fahrer gerichtet, «und dann kommen 64 Kilo Bündnerfleisch und springen allen um die Ohren. Es war wie die Faust aufs Auge, from Zero to Hero.» Er musste sich schnell an die neuen Umstände gewöhnen. Zumal es für die Schweizer Delegation schwache Olympische Spiele waren. Gian holte eine von nur zwei Gold medaillen. Die andere stammte von den Curlern, die ein nicht ganz so hippes Image hatten wie die jungen Snowboarder. Die Folge: «Ich erhielt eine gigantische Medienaufmerksamkeit.»

 

«Und dann kommen 64 Kilo Bündnerfleisch und springen allen um die Ohren.»
GIAN SIMMEN

Mit 45 noch in der Superpipe

24 Jahre ist Olympiagold mittlerweile her. Snowboard Freestyle hat sich in dieser Zeit extrem weiterentwickelt. Die Wände der Halfpipes sind deutlich höher, fast millimetergenau geformt, die Sprünge und Tricks sind atemberaubend. Fährt man auch mit 45 noch in eine Superpipe? «Ja klar, man wächst mit», sagt Gian. Ausserdem waren die Pipes bereits auf heutigem Stand, als er seine aktive Karriere beendete. «Ich versuche auch jedes Jahr wieder, meinen Lauf von Nagano zu fahren. Bisher klappt das.» Auch in der Superpipe von Laax, der grössten Halfpipe der Welt. Selbstredend sind seine Fähigkeiten auf dem Board auch in seiner Funktion als Verantwortlicher des Snowparks in Grindelwald gefragt. «Wir haben ein Team aus Handshapern, die selber gut fahren und testen können.» Diese bearbeiten die aufgehäuften Sprünge und Wellen nochmals von Hand, nachdem der Pistenbullyfahrer sie präpariert hat. Aber ein Test vom Chef darf selbstverständlich nie fehlen. Gian gibt zu bedenken, wie viel Aufwand heutzutage in einem professionellen Snowpark steckt: «Eine deutsche Firma macht zuerst per Computer die Berechnungen, danach benötigt es sehr viel Erfahrung beim Formen.» Dafür hat Gian ein Team zusammengestellt, um stets das Beste aus dem Schnee zu holen und eine Top-Infrastruktur zu bieten, die auch seinen eigenen Ansprüchen genügt. Auf dem Weg dahin half ihm auch der CAS Change and Innovation, den er an der Berner Fachhochschule absolviert hat. Diesen machte er noch während seines früheren Jobs in einem Kommunikationsunternehmen. Gian Simmen und ein Bürojob? Wie hält das ein Outdoorfreak aus? «Das war super», sagt er rückblickend. «Ich durfte Fussballevents übernehmen. Das war auch ein grosses Erwachen, vom Teilnehmer zum Organisator, zudem erhielt ich Einsicht in den Schweizer Fussballverband und damit in die Strukturen eines grossen Verbandes, anders als ich das von uns kannte.» Er profitierte  von dieser Zeit, «ich konnte viel lernen». Um den persönlichen Werkzeugkasten noch etwas aufzubessern «und weil ich das Bedürfnis nach einer Herausforderung hatte», entschied er sich zur Weiterbildung an der FH. «Change und Innovation haben viel mit meinem Sport zu tun, die Hierarchien sind flach, auch in der Arbeit mit den Sponsoren, stetig ist man in Entwicklung. Wir hatten zudem eine tolle Gruppe und bis heute kann ich täglich davon profitieren.» Zum Beispiel arbeitet Gian heute viel mit Mindmaps, zeichnet gern  bei Präsentationen, anstatt aufzuschreiben. «Ich konnte auch sehr vom CAS profitieren, als es beim heutigen Job darum ging, alte, festgefahrene Ansichten zu durchbrechen.»

Familie über alles

Genauso leidenschaftlich wie über seinen Sport redet Gian Simmen über seine vier Söhne. Alle sind ebenfalls gerne draussen, bewegen sich viel. Sämtliche Söhne sind im Breakdance, zwei spielen Fussball, «und einer ist im Biken sehr gut, er fährt die Trails inzwischen schneller und sicherer hinunter als ich», sagt Gian nicht ohne Stolz. Sport ist eine feste Konstante bei der Familie Simmen, keine Frage. Am meisten kommt das wohl immer noch vom Vater. Bewegung gehört bei ihm zwingend zum Ausgleich. «Meine Frau kann abends auch ganz gut einen Film schauen, ich kann auch
um 22 Uhr noch raus  joggen gehen, da habe ich keine Motivationsprobleme.» Entsprechend würde auch der perfekte Familientag für Gian aussehen: «Nach dem Frühstück auf schneebedeckter Strasse hoch ins Skigebiet nach Grindelwald. Ein Skitag, den Funpark ausprobieren und am Abend nicht nach Hause stressen müssen, den Nachmittag oben ausklingen lassen. Zu Hause noch was zusammen kochen, zum Schluss ein Film.» Er bleibt ein Schneemensch. Ein Schneemensch, der hier gerade die Sommersonne des Berner Oberlandes geniesst. Die Gleitschirmpiloten und ihre Passagiere sind mittlerweile verschwunden. Gian verabschiedet sich, bereits wieder das Telefon in der Hand. Am Bahnhof steigen neue Touristen aus dem Zug. Andere hieven ihre Koffer hinein und machen sich auf den Weg in Richtung Bern und Zürich Flughafen.

«Change und Innovation haben viel mit meinem Sport zu tun.»
GIAN SIMMEN

Dieser Artikel erschien als Erstpublikation im Magazin INLINE in der August-Ausgabe 2022.

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