Studierendenaustausch 2020 ‒ eine „Trauerarbeit“ in Phasen

Sabine Künzi
Leiterin International Office | Hochschule für Wirtschaft FHNW
  • 27.08.2020
  • 6 min
Die Corona-Pandemie hat auch den Studierendenaustausch im Jahr 2020 kräftig durcheinandergewirbelt. Wie erlebten das die betroffenen Studierenden? Ein Rückblick aus dem International Office.

Die schweizerisch-US-amerikanische Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross (1926‒2004) hat gelehrt, dass wir Trauer in fünf Phasen überwinden. Sie meinte die Trauer um einen verstorbenen Menschen, das Akzeptieren der eigenen Sterblichkeit und die Trennung von geliebten Menschen.

In den vergangenen Wochen haben die 160 Studierenden der HSW, die im Studienjahr 2020/2021 im Ausland studieren wollen, eine ähnliche „Trauerarbeit“ durchmachen müssen. Die Vorfreude auf das Austauschsemester ist immer gross, es gibt viele begeisterte Berichte von früheren Austauschstudierenden, man hat am International Afternoon des International Office (IO) teilgenommen und sich mit Studierenden aus dem Ausland unterhalten, man hat mit der Arbeitgeberschaft Möglichkeiten besprochen, viele Studierende haben Zeit in ihre sorgfältige Bewerbung auf Mobility-Online investiert – das Austauschsemester ist für sie ein Highlight des Studiums an der Hochschule für Wirtschaft FHNW.

Und dann das! Etwas Unvorhergesehenes, ein Virus, das alles auf den Kopf stellt und die eingespielten und erprobten Mechanismen internationaler Mobilität durcheinanderwirbelt. Nun leben alle Beteiligten mit grosser Unsicherheit. Nicht ganz einfach für uns in der Schweiz, wo wir an eine hohe Planungssicherheit gewöhnt sind.
Das Team des International Office hat die Studierenden in dieser Zeit begleitet. Wir stellen uns vor, dass die „Trauerarbeit“ etwa folgendermassen abgelaufen sein könnte:

Phase 1: Das Nicht-Wahrhaben-Wollen / Denial and Isolation

Mein Austauschsemester, in dessen Vorbereitung ich viel Zeit gesteckt habe, ist nicht gesichert!

Zwar habe ich im „Study Abroad Placement“ des International Office Mitte März als eine/r von 160 Studierenden meinen Platz zugeteilt bekommen, wie bei mehr als 80 % meiner Mitstudierenden sogar einen der drei ersten auf meiner Liste. Zwar hat das IO in der Informationsmail auf kommende Unsicherheiten aufmerksam gemacht, aber ich bin an der Partneruniversität nominiert worden und habe begonnen, mich über mein akademisches Programm und meine Unterkunft zu informieren. Danach habe ich gemeinsam mit meinem Academic Coordinator mein Learning Agreement entworfen.
Jetzt aber informiert mich das IO, dass meine Partneruniversität im Herbstsemester 2020 keine Studierenden vor Ort akzeptieren kann und stattdessen ausschliesslich Online-Unterricht anbietet. Es gibt auch Partneruniversitäten, die März bis August nicht auf die Anfragen des IO oder von Studierenden geantwortet haben. Andere klingen optimistisch, sind aber in Ländern, die mir selber jetzt gefährlich erscheinen. Wie ist das betreffende Land mit dem Covid-19-Virus umgegangen? Wie sieht das Gesundheitssystem dort aus? Muss ich nach der Einreise in eine Quarantäne? Ist es überhaupt noch möglich, ein Visum zu bekommen? Aber ich habe doch eine Zusage! Mein Auslandsemester ist „obligatorisch“. Das kann doch alles nicht wahr sein!

Phase 2: Der Zorn / Anger

Was ist da eigentlich los? Wo ist der Fehler? Wer ist schuld?

Träume zerplatzen, die Enttäuschung ist gross, Ärger kommt auf, weil ich die Unsicherheit schwer aushalte und nicht einsehe, warum es längere Wartezeiten gibt, in denen ich nichts erfahre. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sich gar niemand um mich und meine Situation kümmert. Was macht eigentlich das IO? Es dauert doch noch so lange bis im Herbst – warum können die mir nicht einfach einen anderen Platz anbieten? Ich habe doch ein Recht darauf; die Hochschule für Wirtschaft FHNW wirbt ja mit ihrem grossen Partnernetzwerk. Jetzt sollen die das auch möglich machen!

Phase 3: Das Verhandeln / Bargaining

Was für Möglichkeiten gibt es für mich?

Das IO hat mich informiert, welche Optionen ich nun habe. Ich kann ganz aufs Auslandsemester verzichten und mich zum Beispiel in einem „Intensive Programme Abroad“ oder in einer „Summer School“ anmelden, um dennoch internationale Erfahrung zu sammeln. Ich kann als Freemover auf eigene Faust reisen. Ich muss mit meiner Arbeitgeberschaft sprechen und schauen, wie viel Flexibilität möglich ist. Ich kann mir überlegen, ob ich bereit bin, ins Austauschsemester zu reisen, aber an der Partneruniversität dann ausschliesslich online zu studieren. Ich kann beim IO einen Antrag stellen, dass mein Austauschsemester ins Jahr 2021 verschoben wird. Mein Academic Coordinator kann in Absprache mit mir einen neuen Platz für mich suchen.

Phase 4: Die Depression / Depression

Das habe ich so nicht erwartet!

Ich habe den Eindruck, dass das IO zu langsam arbeitet und sich nicht immer meinen individuellen Bedürfnissen annimmt, dass nicht alle Partneruniversitäten verlässlich sind, dass Informationen fehlen und andere nicht stimmen. Und im Juni muss ich mich auf meine Prüfungen konzentrieren und bin immer noch nicht sicher, was im Herbst genau passieren wird. Ich bin verunsichert, gestresst, verärgert, enttäuscht und traurig.

Phase 5: Die Zustimmung / Acceptance

Ich realisiere, was da in der internationalen Studierendenmobilität weltweit gerade abgeht.

Ein Lösungsweg zeichnet sich ab. Ich sehe, dass ich mich in diesem verrückten Jahr 2020 selber für eine Lösung entscheiden muss, für die ich vom IO, von meinem Studienprogramm und von der Hochschule Unterstützung bekomme. Neue Ideen entstehen, plötzlich erweisen sich neue Regionen, Länder und Partneruniversitäten auch als vielversprechend. Ich muss zwar immer noch abwarten, finde mich aber damit zurecht. Es geht eben nicht anders.

Ich beginne zu verstehen, wie die internationale Studierendenenmobilität funktioniert: Dass die Möglichkeit, an einer Partneruniversität zu studieren, auf Verträgen basiert und auch von finanziellen Rahmenbedingungen bestimmt ist. Weil ich ja im Austauschsemester weiterhin die niedrigen Semestergebühren an der FHNW bezahle, braucht es für dieses finanzielle Gleichgewicht auch Studierende, die an die Hochschule für Wirtschaft FHNW kommen. Die Studierenden im Ausland haben 2020 exakt dieselben Herausforderungen wie ich. Die Hochschule für Wirtschaft FHNW wird
um Austauschplätze angefragt, versucht flexibel zu bleiben und Austauschsemester zu ermöglichen. Nur diese Kooperation ermöglicht mir den Austausch.

Es wird ein Herbstsemester 2020 geben – im Ausland oder an der FHNW! Ich habe viel gelitten und gelernt und bin bereit weiterzumachen.

Kommentare