Es zeigte sich, dass die Betroffenen durch den Kontakt mit unterstützenden Fürsorgepersonen trotz Unbilden Widerstandkraft aufbauen konnten, was schliesslich zu einer positiven Lebensführung führte.
Die vor 1981 getroffenen sogenannten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen sowie Fremdplatzierungen von Kindern und Jugendlichen repräsentieren ein dunkles Kapitel der Sozialgeschichte in der Schweiz (Bundesamt für Justiz 2014). Nach UEK (2019) waren bis zur schweizerischen Gesetzesreform von 1981 Zehntausende von Kindern und Jugendlichen von administrativen Versorgungen und Massnahmen betroffen. «Fürsorgerische Zwangsmassnahmen an Minderjährigen» steht für die Sachlage, dass zahlreiche Kinder und Jugendliche aufgrund kritischer Verhältnisse des Familienverbundes, Armut, unehelicher Geburt oder ihres kulturellen und sozialen Status als «gefährdet» galten, entsprechende Massnahmen eingeleitet und Fremdplatzierungen angeordnet wurden (Ziegler, Hauss, Lengwiler 2018).
Die Trennung von den Bezugspersonen und die damit einhergehenden psychischen Belastungen sowie die schlechten institutionellen Bedingungen führten zu einem Nährboden von Entwicklungsrisiken und negativen Entwicklungsverläufen. Aus der Literatur geht hervor, dass bei Pflege- und Heimkindern mehrfach erhöhte Risikobedingungen bestehen, welche den Entwicklungsverlauf von psychischen Störungen begünstigen.
Betrachtet man die psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen unter ungünstigen Bedingungen etwas genauer, so zeigt sich Heterogenität hinsichtlich der Lebensverläufe. Denn nicht alle Kinder und Jugendlichen leiden unter diesen Erlebnissen, und zahlreiche von ihnen weisen einen unauffälligen oder auch besonders positiven Entwicklungsverlauf auf (Kazdin et al. 1997). Hinsichtlich dieser positiven Entwicklungsverläufe tritt das Konzept der Resilienz auf die Bildfläche. Resilienz kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Spannkraft, Widerstandsfähigkeit und Elastizität (Fröhlich-Gildhoff, Rönnau-Böse 2019). Resilienz kann als Fähigkeit definiert werden, schwierige Situationen und Krisen im Lebenszyklus auf der Basis von persönlichen und sozial vermittelten Ressourcen zu bewältigen und für Entwicklungsprozesse zu benutzen (Welter-Enderlin, Hildenbrand 2006). Mit dem heutigen Stand der Forschung ist allgemein bekannt: «Resilienz ist ein Beziehungskonstrukt, das Ergebnis eines Prozesses zwischen dem Kind und seinem sozialen Umfeld» (Wustmann 2010).
Die Studie basiert auf der Pionierarbeit der frühkindlichen Deprivation von Dr. Marie Meierhofer, welche mit ihrem Forschungsteam zwischen 1958 bis 1961 die Zürcher Säuglingsheimstudie durchführte; im Fokus lag dabei der Gesundheits- und Entwicklungszustand jener Kinder, welche in ihren ersten Lebensjahren in einem der Säuglings- und Kleinkinderheime in Zürich platziert waren. Die Auswertungen von Dr. Marie Meierhofer zeigten damals, dass die Kinder aus den Säuglingsheimen im Vergleich zu Kindern, welche in ihrer Herkunftsfamilie heranwuchsen, deutliche Entwicklungsverzögerungen im sozialen, kognitiven und motorischen Bereich aufwiesen (Meierhofer, Keller 1974).
Auf die individuellen Bedürfnisse der Säuglinge und Kinder wurde kaum eingegangen, und für sozioemotionale Interaktionen fehlten oftmals die Zeit sowie auch die fachliche Priorisierung. In einer Kooperation zwischen dem Marie Meierhofer Institut für das Kind und dem Universitären Kinderspital Zürich wurden zwischen 2019 bis 2022 unter der Leitung von Dr. Patricia Lannen, Dr. Heidi Simoni und Prof. Oskar Jenni im Rahmen der Studie «Heimplatzierung von Kleinkindern – Lebensgeschichten 60 Jahre danach» die heute Erwachsenen gesucht und eingeladen (Lannen et al., 2021). Diese Phase der Studie zeigte die unterschiedlichen Startbedingungen und Lebensverläufe der damals platzierten Kinder in Säuglingsheimen auf. Obwohl die Bedingungen der damaligen Säuglingsheime von psychosozialer Deprivation und ungünstigen Voraussetzungen geprägt waren und mit dem heutigen Forschungs- und Wissensstand mögliche Folgen auf die Entwicklungsverläufe bekannt sind, wird auch immer wieder von Personen berichtet, die allen Widrigkeiten getrotzt haben und sich zu erfolgreichen und glücklichen Personen entwickeln konnten. Diese Personen verfügen über Schutzfaktoren in Form von unterstützenden Beziehungs- und Bindungserfahrungen, welche sich positiv auf ihre Entwicklung auswirkten.
Anhand des sequenziellen abduktiven Auswertungsprozesses nach Rosenthal (1995) wurden die Beziehungs- und Bindungserfahrungen und ihre Wirkungszusammenhänge mit Resilienz anhand von zwei Lebensgeschichten aus der Grundgesamtmenge des Forschungsprojektes narrativ rekonstruiert. Anschliessend erfolgte auf der Basis der beiden ausführlich dargelegten Fälle die Typenbildung. Diese dient der Abstraktion der Ergebnisse auf einer theoretischen Ebene, um das Allgemeingültige des Einzelfalls besser erfassen zu können. Abschliessend erfolgte ein minimal kontrastiver Vergleich, um Annahmen über die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Falltypen zu generieren.
Beide Biografien zeichnen sich durch soziale Unterstützung aus, was zu Widerstandkraft und einer positiven Lebensführung führte. Beide Probanden kamen im Verlauf ihrer Kindheit in Kontakt mit aufgeschlossenen, unterstützenden und sensiblen Fürsorgepersonen. Einerseits sind dies die Lehrperson – «die Lehrerin, wo mir gseit hät, ich segi nit dumm, ich dänk, das hät ziemli mis Läbe veränderet» – und später die Psychologin; anderseits die Grossmutter – «also mini Grossmuetter isch für mich mini Muetter gsi» – und die Schwester. Diese positiven Erfahrungen ermöglichten den Transfer auf spätere Beziehungen. So konnte sich Probandin 1 dank der Lehrperson und der Entwicklung eines positiven Arbeitsmodells auf die Psychologin einlassen, und Proband 2 gelangen dank der frühen Unterstützung durch die Grossmutter später glückende Beziehungen zu Freunden und seiner Ehefrau.
Weiter lässt sich annehmen, dass die Beziehungs- und Bindungserfahrungen einen positiven Einfluss auf die Selbstwirksamkeit ausgeübt haben und sich das Vorhandensein der sozialen Ressource positiv auf die Lebensbewältigung auswirkte. Beiden Probanden gelang eine positive Anpassung im Sinne einer erfolgreichen Bewältigung stufengerechter Entwicklungsaufgaben wie beispielsweise schulischer Leistungen, des erfolgreichen Übergangs weiterführender Schulen/Ausbildungen, des Aufbaus von engen Freundschaften und Beziehungen oder der Stabilisierung der beruflichen Laufbahn. Abschliessend wurde zudem auch deutlich, dass bei beiden Fällen diverse Risikofaktoren bestanden – eine elementare Voraussetzung, um von Resilienz sprechen zu können.
Die Resultate dieser Untersuchung zeigen und bestätigen die grosse Bedeutsamkeit von Bezugspersonen und verdeutlicht die Wichtigkeit für die Sensibilisierung und Ausbildung von Fachpersonen sowie die weitere Ausgestaltung der institutionellen Bedingungen. Das Augenmerk muss auf den kleinsten Veränderungen und Unterschieden liegen, um mit wachem Auge die Bedürfnisse derjenigen im Blick zu haben, welche Unterstützung benötigen.
Die Autorin blickt mit gemischten Gefühlen auf das Jahr zurück, als sie ihre Masterarbeit schrieb und sich intensiv mit den verschiedenen Lebensgeschichten aus dem Projekt befasste. Die Faszination dieser unglaublichen Geschichten und die Hoffnung und Freude, die sie beim Lesen empfand, wichen teilweise auch Fassungslosigkeit und tiefer Bestürzung. Weiter gab es Phasen, in dem sich der Schreibprozess in einem kompletten Stillstand befand und grosse Ängste, Demotivation und Unsicherheiten auslösten und sie sich rückblickend sicher ist, dass die schwierigen Phasen nur überwindbar waren aufgrund der engen und unterstützenden Begleitung durch das Team am Marie Meierhofer Institut für das Kind und der bereichernden und stärkenden Beziehungserfahrungen durch ihr persönliches Umfeld. Das grosse Ganze zu sehen und auch in den dunkelsten Stunden dem Gesamtprozess zu vertrauen, stellte sich für die Autorin als Schlüssel zum Erfolg heraus.
Salome Lütold bringt verschiedene Erfahrungswerte im Bereich der Arbeitsintegration mit. Neben ihrem Studium konnte sie Erfahrungen im Coaching und in der Beratung junger Erwachsener sammeln sowie im Zentrum für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie in der Diagnostik und Beratung arbeiten. Sie ist aktuell als Berufsberaterin tätig, um in Absprache mit Schulen, Behörden, Arbeitgebenden und IV-Behörden Eingliederungsmassnahmen im Arbeitsmarkt umzusetzen.
Der SBAP verleiht den Preis für Masterarbeiten für herausragende Arbeiten im konsekutiven Masterstudiengang am Departement Angewandte Psychologie.
Pro Vertiefungsrichtung (A+O, KlinP, E+P) wird an der Diplomfeier jährlich je ein Preis vergeben. Die drei gleichwertigen Preise gehen an innovative angewandt-psychologische Masterarbeiten, die Neues explorieren und noch wenig bearbeitete Fragestellungen der Angewandten Psychologie thematisieren. Die ausgezeichneten Arbeiten werden im punktum. von den Autor:innen vorgestellt.
Der Schweizerische Berufsverband für Angewandte Psychologie gibt Psychologinnen und Psychologen in diesem Land eine starke Stimme. Sie profitieren von den Aktivitäten für eine gute Bildung, eine starke Interessensvertretung in der Politik und für ein Qualitätslabel, welches für seriöse, wissenschaftlich fundierte und praktisch erprobte psychologische Leistungen steht.
Nächste Anlässe beim SBAP
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