Politiker-«Dating», damit Junge an die Urnen gehen

Eine Web-App, die mit Gamification das Interesse an der Politik weckt. So will Design-Absolventin Sophie Walker mehr junge Menschen für Politik begeistern. Der erste Test erfolgte bereits im Heimatkanton Uri. Grosses Ziel sind die nationalen Wahlen 2023.

Für das Interview führt Sophie Walker zu einem ihrer Lieblingsplätze in ihrem Heimatkanton Uri, wo sie bis nach dem Lockdown vorübergehend bei ihren Eltern lebt: Die Bank unter einem grossen Baum vor dem Kapuzinerkloster bietet einen herrlichen Ausblick über Altdorf, hinüber an die bewölkten Flanken des Gitschen. Die Idylle der Urschweiz steht im krassen Gegensatz zu manchen Stationen ihres Lebens. Die 24-jährige Tochter eines Diplomaten hat bereits früh die Welt aus einer anderen Perspektive wahrgenommen. Ausser in Uri lebte sie in Bern, Berlin, Kairo und der indonesischen Hauptstadt Jakarta.

Andere Sicht, neue Ideen

Und so konnte Sophie Walker auch jene Aussensicht  entwickeln, die sie zur Erkenntnis brachte, dass das hiesige politische System gegenüber anderen doch etliche Vorteile bietet - wobei auch dieses «nicht perfekt» ist, wie sie zweifach betont, «denn perfekt gibt es nicht».  Der Perfektion wenigstens etwas näher zu kommen, dazu dient nun ihre Masterarbeit. Sie hat eine Web-App entwickelt als Wahlhilfe für Jugendliche. Das Ziel: Sie soll die Wahlbeteiligung erhöhen und einer jüngeren Schicht, die sich kaum mit politischen Themen herumschlagen mag, einen möglichst leichten Einstieg ermöglichen. 

Die Grundlage für ihr Projekt hat sie sich in den Niederlanden erworben - ihrer ersten Station, die sie selber aussuchen konnte. Dort hat sie den Bachelor in Communication and Multimediadesign mit Vertiefung Game Design and Development absolviert. Es folgte der Master in Design mit Vertiefung Game Design an der ZHdK, den sie dieses Jahr mit erwähnter Masterarbeit abgeschlossen hat. 

Die Idee für ihre Masterarbeit reifte bereits länger in ihrem Kopf heran. Erstmals aufgetaucht war sie auf einer Reise nach Sri Lanka während der Studienzeit, wo ihr Vater dannzumal als Botschafter im Amt war. «Das Land stand vor einem Machtwechsel, mit Neuwahlen des Präsidenten und des Parlaments. Soviel ich erfuhr, wünschten sich die Menschen einfach eine Veränderung. Ich habe überlegt, wie man ihnen eine Wahlhilfe geben könnte, etwa mit spielerischen Elementen.»

Was in Sri Lanka nur eine Idee war, wurde in der Schweiz konkret. «Ich dachte, das könnte doch auch hier funktionieren», erzählt Walker. Einfach mit einer etwas anderen Ausgangslage: Hier liegt es nicht grundsätzlich am Zugang zu Informationen, sondern an der Wahlbeteiligung, besonders bei den Jungen. So gab sie ihrer Arbeit den Namen «Projekt CH+ Games für Demokratie».

Sie führt die App auf ihrem Smartphone gleich selber vor. Es ist eine Mischung aus politischem Fragebogen, Dating-App und Spiel. Der Prozess erfolgt einfach und Schritt für Schritt.

Einfache Bedienung in mehreren Schritten

Per Fragebogen von Smartvote geht es los. Dazu arbeitet sie mit dem Verein zusammen, «sie stellen mir ihre Plattform zur Verfügung», erklärt Walker. Eine echte Konkurrenz sei das nicht, sondern eine Ergänzung: «Während meine Zielgruppe jüngere, ‹unpolitische› Menschen sind, hat es Smartvote auf ein gereiftes, politisch interessiertes Publikum abgesehen, das tendenziell der Bildungsschicht angehört.» Wie bei Smartvote wird  bei ihrer Web-App auch ein Smartspider erstellt, der das politische Profil des Users grafisch wie ein Spinnennetz darstellt.

Hat die App die politischen Präferenzen des Anwenders erfasst, beginnt der eigentlich spielerische Teil, den die Jungen so gut adaptieren können.  Man bekommt kandidierende Politiker aus dem eigenen Wahlkreis inklusive Smartspider vorgesetzt, die man entweder nach rechts (like) oder nach links (dislike) wischen kann. Das «swipen» funktioniert wie bei der bekannten Dating-App Tinder. Der Wisch nach oben bedeutet einen «Superlike». Dies geht so lange, bis alle Kandidatinnen und Kandidaten durch sind.

In einem folgenden Schritt kann die eigene Wahlliste dynamisch zusammengestellt werden. Wiederum ist hier der Zugang einfach und leicht verständlich. Per Drag and Drop können Kandidaten, die man zuvor ausgewählt hat, auf eine Liste gezogen oder wieder gelöscht werden. Dazu können auch die offiziellen Wahllisten abgerufen werden und wie auf dem Wahlzettel ergänzt oder gemischt (panaschiert) werden. Zudem wird jeweils der Durchschnitts-Smartspider der gesamten Liste angezeigt, der sich mit jeder Veränderung anpasst. So hat man jederzeit den Überblick, inwiefern die Liste mit den eigenen Präferenzen übereinstimmt.

Vor allem das Design der App fällt auf. Es ist ansprechend, bildhaft, benutzerfreundlich. Dass viel Leidenschaft und entsprechende Arbeitsstunden drin stecken, lässt sich erahnen. «Für junge Menschen funktioniert die App sehr einfach und intuitiv, weil man mit jeder erfüllten Aufgabe aufsteigt, also motiviert wird», erklärt Walker. «Das hilft zudem auch beim Strukturieren der Gedanken.»

Die Anwendung agiert dabei mit Begriffen, welche ein junges Publikum mehr ansprechen als die spröde Amtssprache oder der Politjargon. So wird die Wahlliste als «Team» bezeichnet. Und bei den Urner Kantonsratswahlen im März dieses Jahres, wo die App erstmals zum Einsatz kam,  hiess es bei einem Wisch auf die linke Seite kurz und bündig «abfahrä». Auch sonst wurde stellenweise, etwa in den Titeln, mit Dialekt gearbeitet. «Hier im Kanton Uri ist das gut angekommen.» 

Hinter all den Details stecken aber nicht nur ihre eige­nen Überlegungen. So legt sie auch Wert auf die Feststellung, dass die App im Co-Design entstanden ist:  «Dabei geht es darum, möglichst viele Perspektiven in den Designprozess miteinzubeziehen.» Dazu hat sie unter anderem nach den nationalen Wahlen eine Onlineumfrage gestartet, an der 500 Personen teilnahmen.Diese Erkenntnisse flossen zusammen mit in die App ein, die an den Urner Wahlen zum Einsatz kam.  

Im Ausland politisiert

Politisiert wurde Sophie Walker nach eigenen Angaben in den Gastländern. «Ich habe dort die Prozesse miterlebt und kennengelernt.» Das hat ihr vor allem die grossen Unterschiede aufgezeigt. Trotzdem würde sie sich selber nicht entschieden als politischen Menschen bezeichnen. «Einer Partei würde ich mich momentan nicht anschliessen.» Ihr Ziel ist vielmehr, die Jugend parteiunabhängig stärker zu politisieren. «Den älteren Generationen wird schon mehr Hilfestellung geboten, sie sind durch die Wahlunterlagen stärker angesprochen, verstehen bereits die Amtssprache.» Für Junge hingegen gebe es bisher zu wenig Einstiegsmöglichkeiten. «Gleichzeitig nimmt gerade unter ihnen die Zahl von News-Deprivierten zu», also jenen, die kaum noch relevante Medieninhalte, sondern fast nur noch seichte sogenannte «soft News» konsumieren. «Zudem ist es nicht leicht, bei diesem Informations-Overflow die Übersicht zu behalten.» 

Hier will Walker einsetzen und die Jungen dort abholen, wo sie zu Hause sind. Deshalb auch das Element der Gamification, das sie für einen sinnvollen Zweck einsetzt. «Die Möglichkeiten, die spielerische Elemente bieten, sind fast unbegrenzt», schwärmt Walker. Umso mehr ist sie konsterniert darüber, dass diese noch immer hauptsächlich für Marketingzwecke eingesetzt werden, etwa um Menschen möglichst lange auf einer Plattform zu behalten. «Dabei könnten wir diese Elemente auch sinnvoll nutzen, etwa für den Wissenstransfer. Ich bin überzeugt, dass Kinder in Zukunft ganz anders lernen können und die Schule richtiggehend Spass macht.» Ethik im digitalen Raum ist ihr ein grosses Anliegen.

Mit frischem Wind ins neue Abenteuer

An den baldigen Wahlen in Basel Stadt im kommenden Oktober erfolgt denn auch die nächste Nagelprobe für ihre Anwendung. Diesmal ohne den Bonus, eine Einheimische zu sein. Allerdings nimmt sie auch viel Erfahrung mit und weiss bereits, was sie anders machen möchte als beim ersten Mal. Es beginnt damit, dass sie so viele Partner mit ins Boot holt wie möglich. An Ideen fehlt es ihr nicht. Der Junge Rat und der Jugendbeauftragte des Erziehungsdepartements sind zum Beispiel mit dabei. Mehr verraten kann Walker aber noch nicht, nur so viel: «Wir müssen unsere Sichtbarkeit vergrössern und auch die Reichweite.» So sucht sie diesmal zum Beispiel auch den Zugang zu den Schulen. Denn mit dem Ergebnis bei den Urner Wahlen ist sie nur bedingt zufrieden, 230 Nutzer haben sich registriert. «Ich hätte mehr erwartet, auch wenn die Rückmeldungen der User sehr positiv waren», sagt sie offen. «Wir waren aber wohl auf den falschen Kanälen präsent.» Selbstredend werden auch die Erkenntnisse aus der Abschlussumfrage in Uri in die Basler Wahlhilfe einfliessen. Für die Basler Wahlen wird die App zudem in einem ganz neuen Kleid daherkommen. Während es in Uri eine Gebirgskette war, die für Identifikation sorgte, wird das Hintergrunddesign in Basel eher städtisch geprägt sein. Auch sonst gäbe es noch viel weiterzuentwickeln. Für Walker ist das ein stetiger Prozess.

Studium als Horizonterweiterung

Ohne ihr FH-Studium wäre dieses Projekt nicht zu stemmen, ist für Sophie Walker klar. «In Holland war die Arbeit immer stark projektorientiert, wir arbeiteten quartalsweise in Teams. Das war unheimlich wertvoll in Bezug auf Menschenkenntnis, Stärken erkennen, auf Deadlines hinarbeiten. Es war sehr praxisnah», schwärmt sie. Bei ihrem Masterstudium an der ZHdK wiederum war sie beeindruckt vom Wissen ihrer Professorinnen und Professoren: «Sie haben mir einen extrem breiten Horizont eröffnet, ich dachte, meine Welt stellt sich auf den Kopf.» Für ihre Masterarbeit habe sie sehr wertvolle Hilfestellung erhalten, «wir gingen auch stark der Frage nach, was Spiele alles vermitteln können.» Dennoch sei der praktische Zugang stets im Vordergrund gestanden. 

Zum einen also ermöglichte das Know-how des Studiums, ihre Idee umzusetzen. Doch zusätzlich war kräftige finanzielle Hilfe nötig. «IT ist teuer», sagt Walker trocken. Fündig wurde sie beim Förderprogramm «First Ventures» der Gebert Rüf Stiftung. Diese fördert damit Bachelor- und Masterstudierende von Fachhochschulen, die in ihrer Abschlussarbeit eine innovative Geschäftsidee entwickeln mit bis zu 150 000 Franken. Diesen Maximalbetrag hat auch Sophie Walker erhalten – für die Projektdauer 2020 bis 2022. Geld, das grösstenteils in Personalkosten fliesst. Die Projektdauer bis 2022 hat einen guten Grund: Erklärtes Ziel ist es, ihre Web-App auch für die nationalen Wahlen 2023 anbieten zu können. 

Bis dahin werden noch weitere Prüfsteine zu überwinden sein und viel Entwicklungsarbeit sowie Monitoring in das Projekt fliessen. Doch das Selbstvertrauen und die Entschlossenheit, die Sophie Walker ausstrahlt, lassen kaum daran zweifeln, dass das Ziel erreicht wird.

Dieser Beitrag ist als Erstpublikation im Magazin INLINE August 2020 erschienen.

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