Israel – Eine Reise in den Brennpunkt der Kontraste

Lea Ernst
Redaktorin | Brainstorm
  • 07.10.2018
  • 8 min
Seit ich aus Israel zurück bin, muss ich jeden einzelnen Tag an das kleine Land im Nahen Osten denken. Und nur zum Teil wegen des eiskalten Hummus-Entzugs, der sich langsam aber sicher bemerkbar macht. Viel mehr, weil mich noch nie zuvor ein Land dermassen berührt, fasziniert und gleichzeitig auch abgestossen hat.

Die Einreise lässt sich gut mit meinen Vorurteilen gegenüber Israel vergleichen: verdammt
kompliziert und man weiss nie genau, woran man eigentlich ist. Mit teilweise absurden Fragen löchert das Flughafenpersonal in Tel Aviv die frisch gelandeten Ankömmlinge. «Weshalb kommen Sie nach Israel?», «Was macht Ihre Schwester beruflich?», «Wie spricht man Ihren Heimatort auf Schweizerdeutsch aus?». Nennt mich skeptisch, aber ich bezweifle schon irgendwie, dass der Herr im Anzug etwas mit meinem Heimatort anzufangen weiss. Ohne mit der Wimper zu zucken lauscht er jedoch brav meiner schweizerdeutschen Komposition bestehend aus raffinierten Kratzlauten und elegant eingebetteten ä’s und ö’s. Eine halbe Stunde und Niagara- Schweissausbrüche meinerseits später werde ich endlich aus dem Kreuzverhör entlassen und bin bereit, mich in das fremde Getümmel zu stürzen.

Tel Aviv, die schillernde Seifenblase

In Tel Aviv feiert man das Leben. «Yallah, yallah», klingt es kehlig durch die Strassen, was arabischer Slang ist für «schnell, los!». Und genau das nehmen sich die Bewohner der quirligen Küstenmetropole auch zu Herzen. In Tel Aviv ist immer etwas los, ob abendliches Salsa-Tanzen auf dem Sarona-Market oder vibrierende Techno-Partys in einer verlassenen Villa. Ganz nach dem Motto «Jeder Tag könnte der letzte sein» geniessen die Tel Avivis, wie die Bewohner auch genannt werden, ihren Alltag in der Krisenregion Nahost.

Das schönste Lebenselixier

Tel Aviv ist die «Sin City» des gelobten Landes: In der salzigen Meeresluft lässt sich das Leben wahrlich gut geniessen. Nach einer durchtanzten Nacht sitze ich in einem Strassencafé. Kreisende Möwen über mir, die kitzelnde Sonne auf mir und ein frisches Shakshuka vor mir: Gibt es einen besseren Weg, seinen Kater in ein zahmes Kätzchen zu verwandeln? Shakshuka, das typisch israelische Gericht mit frischen Tomaten, Chili und Eiern ist zu jeder Tageszeit erhältlich und wird mit warmem Pitabrot genossen. Ich beobachte die Passanten, die den  grössten Zürcher Hipster vor Neid erblassen lassen würden. Ausgefallen wie Paradiesvögel kleiden sich die Tel Avivis. Sie sind stilvoll, jedoch stets auch mit einer gehörigen Portion Lässigkeit.

Die sprühende Kreativität der Stadt ist ansteckend. Die engen Gassen sind voller bunter Graffitis. An jeder Ecke finden sich Kunstgalerien. Die wunderschönen Menschen sind braungebrannt und ihre stechend blauen oder grünen Augen strahlen mit ihrer Lebensfreude um die Wette.

Der Puls der Stadt

Die Hauptschlagader Tel Avivs ist der Strand. Nach Feierabend ziehen sich die Lebenskünstler um (oder eher aus) und verbringen den Rest ihres Tages mit Sonnenbaden, Schwimmen oder Matkot, dem israelischen Nationalsport. Klack, klack, klack. Der kleine Ball auf den Holzschlägern gibt den Takt des Strandes vor. Auch hier beweisen die Tel Avivis ihr Stilbewusstsein: Man trinkt Weisswein aus Weingläsern, inklusive mitgebrachten
EiswĂĽrfeln.

Es ist beeindruckend, wie liberal in der israelischen Stadt mit der grossen Schwulen- und Lesbenszene umgegangen wird. Eigene Bars oder Clubs sind unnötig, Homosexuelle gehören unhinterfragt zum bunten und vielseitigen Stadtbild. Was die Toleranz betrifft, könnte sich die Schweiz eine dicke Scheibe abschneiden.

Auch wenn es mir schwerfällt, ist es nach einer Weile Zeit, das Leben in der schillernden Seifenblase zu verlassen. Ich steige in den Bus, der mich von Tel Aviv in nur einer Stunde in eine komplett andere Welt bringen wird.

Schabbat Schalom aus Jerusalem

Die «Heilige Stadt» ist vermutlich einer der verrücktesten Orte der Welt. Auf engstem Raum leben in Jerusalem drei Weltreligionen. Die Abneigung zwischen Juden, Christen und Muslimen ist deutlich spürbar, die Stimmung ist aufgeheizt.

Kaum angekommen, werde ich in eine kleine Seitengasse gezogen. Ein gigantischer Strudel aus Menschen und Farben saugt mich ein und ich weiss kaum noch, wohin ich schauen soll. Die Marktstrasse ist brechend voll, in wenigen Stunden beginnt der Schabbat. Der jüdische Ruhetag dauert von Sonnenuntergang am Freitag bis zum Eintritt der Dunkelheit am Samstag. Da die allermeisten Geschäfte dann geschlossen haben, tätigen die Einwohner nun in grösster Eile ihre letzten Einkäufe auf dem Markt.

Der Sturm vor der Ruhe

«Schabbat Schalom!», schreien die Verkäufer in die noch lautere Menge und wägen hektisch Früchte, Fleisch und Nüsse ab. Ich bin umgeben von einem gigantischen Meer aus wuselnden Kippas, Kopftüchern und Baseballcaps, spüre, wie mein Körper im Getümmel auf nackte und verpackte Haut trifft und bin ganz benebelt von den intensiven Gerüchen. Süsses Gebäck, würziger Tee, beissender Zigarettenrauch. Einige der Marktbesucher sind bereits zur Ruhe gekommen und läuten den Schabbat bei einem Bier ein. Sie sitzen vor den Bars und beobachten das chaotische Treiben. Bald ist es soweit. Ich mache mich auf den Weg zum besten Ort, an dem man den Auftakt des Ruhetags erleben sollte.

Schmelztiegel der Extreme

Minuten vor Beginn des Schabbats schlendere ich in der Abendstimmung durch die engen Gassen der Altstadt. Ultraorthodoxe Juden in festlicher Kleidung überholen mich im Stechschritt. Sie strömen zur Klagemauer, wo sie sich zu Tanz, Gesang und Gebet treffen. Wer dort stille Andacht erwartet, wird ü

berrascht: Es ist laut, die Feiernden sind aufgekratzt. Direkt an der Klagemauer bilden sich Kreise ausgelassen tanzender Gläubiger. Man spürt: Die Vorfreude auf den Schabbat ist gross und echt. Die Stimmung ist so unglaublich faszinierend, dass sich meine Gänsehaut zu keiner Sekunde legt. Ich kann nicht weg, muss stundenlang stehenbleiben und die wogende Menge tausender hochreligiöser Juden betrachten.

Als ich mich endlich losreissen kann, steht der Mond bereits hoch über der Al-Aqsa- Moschee. Ich verlasse den Kern der Altstadt und steige die uralten Stadtmauern hinauf. Von hier oben sieht man weit über den neueren Teil Jerusalems. In Gedanken noch bei den ultraorthodoxen Juden an der Klagemauer holt mich plötzlich ein lautes Röhren zurück in die Wirklichkeit: Der islamische Gebetsruf der Muezzin. Er ist überall und hallt scheppernd durch das verworrene Strassennetz unter mir. Was für eine Stadt!

Palästina – Hinter der Mauer

Wenn es die aktuelle Lage zulässt, sollte man bei einer Reise nach Israel unbedingt auch ein paar Tage in der Westbank verbringen. Das abgeschottete palästinensische Gebiet liegt hinter einer hohen Mauer und diversen Checkpoints.

Während meines Aufenthalts befinden sich die grösseren Städte der Westbank im Streik. Die Israeli hätten vor zwei Wochen einen palästinensischen Jungen getötet und verhinderten nun die Übergabe der Leiche, so die Palästinenser. Von der israelischen Seite tönt es anders: Die Palästinenser seien es gewesen, die einen israelischen Soldaten getötet hätten. Obwohl man automatisch Partei für die palästinensische Minderheit ergreifen möchte, ist es äusserst schwierig, die Situation in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen. Man weiss schlicht und ergreifend nicht, was stimmt und was nicht.

Verfahrener Streit um Hebron

Ihr hässlichstes Gesicht zeigt die israelische Besetzung in Hebron. Ein Besuch der zweitgrössten Stadt der Westbank kann jede Hoffnung zerstören, dass die Friedensgespräche in Nahost jemals zu einem Ergebnis führen werden. Eine Minderheit von 800 radikalen Israeli siedelt dort mitten im Stadtzentrum.

Die rund 90 israelischen Familien wollen Hebron für die Juden zurückerobern. Dafür nehmen sie in Kauf, dass ihre Kinder – bewacht von hunderten israelischen Soldaten – in einer abgeriegelten Geisterstadt aufwachsen. Sie akzeptieren auch, dass für das Wohl einiger Juden das gesamte palästinensische Leben in der Altstadt zum Erliegen gekommen

ist – und das in einer Stadt mit 200’000 arabischen Einwohnern. Auf Anordnung des israelischen Militärs mussten die meisten palästinensischen Läden in der Innenstadt schliessen. Mehr als 1800 arabische Familien haben so ihre Arbeit verloren. Frieden oder auch bloss ein Entgegenkommen scheint in Hebron sehr, sehr weit entfernt.

Die Politik lässt den Konflikt weiter brodeln

Die Mehrheit der Israeli ist der Ansicht, dass der Grossteil der Westbank – allen voran kleine Siedlungen wie die in Hebron – aufgegeben werden müssen, um den Nahost-Konflikt zu entschärfen. Die zirka 500’000 Siedler vertreten also eigentlich eine Minderheitenmeinung.
Und trotzdem beeinflussen sie die Politik Israels massiv. Viele Siedler wohnen bloss in palästinensischem Gebiet, weil es dort billiger ist. Die Angst, dass das gute Leben auf fremdem Land bald ein Ende haben könnte, lässt auch eigentlich unpolitische Siedler rechte Parteien wählen. Und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist auf die Stimmen dieser Siedler angewiesen.

Langsam rollt mein Bus durch die staubigen Strassen Ramallahs zurĂĽck nach Jerusalem.
Manchmal bleibt er stehen, weil Demonstranten die Strasse versperren. Die Luft ist noch gereizt vom Tränengas. Ich muss an die schillernden Tel Avivis am Strand denken: Ob sie gerade eine neue Flasche eiskalten Weisswein aufgemacht haben?

Dieser Artikel erschien als Erstpublikation beim Brainstorm.

 

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