«Die angewandte Forschung der FH sagt mir sehr zu»

Sie forscht und arbeitet an der FH Graubünden, den Doktortitel erhält sie von der Uni Zürich. Möglich macht dies eine Kooperation der beiden Hochschulen. Warum Selina Steiner diesen Weg einem reinen Uni-Doktorat vorzieht, erzählt die Bernerin im Interview.

Selina Steiner hat letzten Herbst ein Doktorat in Wirtschaftswissenschaften in Angriff genommen. Dass sie als FH-Absolventin diese Chance erhalten hat, verdankt sie einer Kooperation zwischen der Fachhochschule Graubünden (FHGR) und der Uni Zürich. Immatrikuliert ist sie in Zürich, die Uni wird ihr auch den Titel PhD in Business and Economics verleihen. Ihre anwendungsorientierte Forschung hingegen kann sie in Chur vorantreiben, wo sie auch in Teilzeit am Schweizerischen Institut für Entrepreneurship (SIFE) der FHGR angestellt ist. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich Supply Chain Management. Genauer gesagt untersucht sie Standortentscheidungen von Produktionsunternehmen  – ein Thema, das insbesondere im Kontext der Pandemie und des Ukrainekrieges infolge von bedrohten oder gar zusammengebrochenen Wertschöpfungsketten massiv an Bedeutung gewonnen hat.

Selina, warum möchtest du promovieren?

Selina Steiner: Bei mir steht jetzt nicht unbedingt der Lohn, der dann später einmal winkt, im Vordergrund. Ich bin stark intrinsisch motiviert, es hat mich einfach gepackt. Es ist eine grosse Herausforderung die ich unbedingt annehmen möchte.

Du gräbst dich also gerne in eine Materie hinein?

Ja, ich finde es sehr bereichernd, mich über längere Zeit in etwas zu vertiefen, daher ist das Doktorat für mich der richtige Weg. Man muss sicher der Typ dazu sein.

Dein Weg ist eher untypisch: Nach der gymnasialen Matura hast du einen Bachelor an der Uni Bern absolviert, bist für das Masterstudium aber an die FHGR gewechselt. Was hat dich zur FH hingezogen?

Während meines Bachelors an der Uni hatte ich vor allem klassische Vorlesungen im grossen Hörsaal. Mir fehlte das Persönliche. Das hat den Ausschlag gegeben, mich nach FH-Masterstudiengängen umzusehen. So bin ich auch auf die FHGR gekommen, da sie klein und familiär ist.

Und du hast das Gesuchte gefunden?

Auf jeden Fall. Ich habe den Master in Business Administration mit Major in Tourismus sehr genossen. Wir waren rund 15 Studierende in der Klasse, es war ein tolles Team. Ich lebte da bereits in Chur. Wir haben in unserer Klasse auch viel privat zusammen unternommen, diese Zeit habe ich sehr genossen.

Wann kam der Wunsch zu promovieren?

Während der Zeit des Masters merkte ich, dass es mir Spass macht, mich in ein Thema zu vertiefen. Da war für mich klar, dass ich noch einen weiteren Schritt machen will. Die anwendungsorientierte Forschung hatte es mir ebenfalls angetan. Dann kam zum perfekten Zeitpunkt die Möglichkeit, dieses Programm zu absolvieren. So hat sich das automatisch ergeben.

Ein Doktorat nur an der Uni war also nie Thema?

Mit einem FH-Master ist es ja in der Realität sehr schwierig, an ein Uni-Doktorat zu kommen. Gerade die Suche nach einer oder einem betreuenden Professor:in gestaltet sich meistens als sehr herausfordernd, denn es herrscht viel Konkurrenz. Also läuft der Weg letztlich meist doch über einen zusätzlichen Uni-Master oder das Ausland, was für mich beides nicht erste Wahl war.

Wie erlebst du dieses Kooperationsprogramm?

Für mich ist es perfekt. Es gefällt mir in Chur. Ich kann meine Forschungsarbeit sehr anwendungsorientiert gestalten. Gleichzeitig, und das ist das Tolle, profitiere ich von beiden Welten, Uni und FH. Ich kann von beiden Seiten das Beste mitnehmen, erhalte Inputs aus verschiedenen Perspektiven. Dass ich den Titel von der Uni Zürich erhalte, ist für mich ein Plus, da die Universität einen sehr guten Ruf geniesst.

Wie läuft die Zusammenarbeit zwischen Uni und FH, wie sind die Zuständigkeiten verteilt?

Immatrikuliert bin ich wie eine normale Doktorandin an der Uni Zürich. Ich arbeite und forsche hingegen an der FHGR und werde von ihr unterstützt. Prof. Dr. Patricia Deflorin (siehe Box) ist meine direkte Vorgesetzte. Wir arbeiten eng zusammen, daher ist sie meine nächste Bezugsperson. Doch auch an der Uni Zürich kann ich jederzeit bei meiner Betreuungsperson Prof. Dr. Helmut Dietl meine Inputs abholen..

Weisst du bereits, wie deine berufliche Laufbahn später verlaufen soll?

Ob ich im Hochschulbereich bleibe oder mein Wissen in der Praxis anwende, ist noch offen. Im Moment könnte ich mir sehr gut vorstellen, weiterhin an einer Hochschule tätig zu sein. Gerade die angewandte Forschung der FH sagt mir sehr zu, verbunden mit der Zusammenarbeit mit Wirtschaftspartnern, von denen wir oftmals direktes Feedback für unsere Forschung bekommen.

Du könntest dir also auch eine Lehrtätigkeit an einer Fachhochschule vorstellen?

Ja auf jeden Fall, sogar sehr gut. Das Umfeld passt. Und es wäre auch schön, etwas vom Weg den ich nun gehe, zurückzugeben. Ich würde auch gerne aufzeigen, dass viele Möglichkeiten offen stehen, also auch, von der FH herkommend zu promovieren.

Was ich mich bei Doktorierenden immer frage: Bleibt neben der Arbeit an der FH und der Forschung noch Zeit für Privates wie Hobbys?

Ein Doktorat ist sicherlich sehr zeit- und ressourcenintensiv. Dennoch muss man differenzieren. Trotz hoher Arbeitsbelastung ist die Balance sehr wichtig. Wir sind alle Menschen und müssen irgendwann unsere Batterien aufladen. Ich gönne mir durchaus Pausen und Auszeiten. Das ist vor allem auch eine Frage von Disziplin, Organisation und Effizienz.

Und wozu nutzt du deine freie Zeit?

Für vieles, Hauptsache, es ist draussen und ich bewege mich. Sei es beim Wandern, Biken oder auch Gleitschirmfliegen. Im Winter findet man mich beim Langlaufen und auf einer Skitour.

«Die FHGR profitiert auf mehreren Ebenen»

An der FHGR ist Prof. Dr. oec. Patricia Deflorin Forschungsleiterin und Dozentin am Schweizerischen Institut für Entrepreneurship (SIFE). Sie betreut Selina Steiner als «Doktormutter» während ihrer Dissertation.

Welche Zulassungskriterien müssen FH-Masterabsolvent:innen für das Programm erfüllen?

Patricia Deflorin: Erstens muss der fachliche Hintergrund des Masterabschlusses stimmen und die Gesamtnote muss mindestens 5,5 betragen. Zweitens müssen zusätzliche ECTS-Punkte erbracht werden. Im Fall von Selina Steiner waren es 30. Und drittens: Es muss sich eine Professorin oder ein Professor von der Universität bereit erklären, die Betreuung zu übernehmen. Das ist eine der zentralen Hürden, da der Wettbewerb um Betreuungsplätze sehr hoch ist.

Welche Berührungspunkte haben Sie mit der Universität Zürich?

Die Themenfindung erfolgte gemeinsam zwischen Prof. Helmut Dietl, Selina Steiner und mir. Jetzt ist es ein steter Austausch: Wenn wir denken, einen Schritt weitergekommen zu sein, besprechen wir zu dritt das weitere Vorgehen. Prof. Dietl aber hat das letzte Wort, da die Uni Zürich die titelvergebende Hochschule ist. Wir haben aber ein sehr gutes Vertrauensverhältnis, da er mein Habilitationsvater war und wir uns daher gut kennen.

Liegt das Gewicht bewusst auf anwendungsorientierter Forschung?

Nein, und zwar weil es für wissenschaftliche Veröffentlichungen zentral ist, dass wir bei der strukturierten Aufnahme der Daten wissenschaftliche Qualitätsstandards anwenden. Daher ist der Unterschied bei der eigentlichen Arbeit an sich nicht so gross. Allerdings besteht der Unterschied bei der Fragestellung, zudem fragen wir uns an der FH, was wir für die Praxis herausnehmen können.

Wie profitiert die FHGR von diesem Kooperationsprogramm?

Wir profitieren auf mehreren Ebenen. Unsere Absolvent:innen erhalten die Gelegenheit, sich weiterzuentwickeln. Das ist für uns als Institut sehr wichtig, gleichzeitig bleiben sie bei uns im Team. Wir verlieren sie also nicht an die Uni, wenn sie dort ihre Doktorarbeit machen. Wir profitieren zudem von wissenschaftlichen Mitarbeitenden, die Publikationen schreiben und damit unsere Bekanntheit erhöhen. Letztlich macht es die FHGR als Arbeitgeberin attraktiv, wenn wir ein solches Programm anbieten können. Und natürlich ist es super, wenn wir diese Arbeit auch wieder in die Lehre zurück transferieren können.

Dieser Artikel ist als Erstpublikation im INLINE August 03/2023 erschienen.

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