«Das Träumen gibt uns Kraft, nicht nur kurzfristig»

Was hat es eigentlich auf sich mit dem Träumen? Und wie können wir das sogar für uns nutzen? Ein Seminar an der FHNW Soziale Arbeit liefert Antworten.

Träumen als Kreativmotor im Berufsalltag? Diese Grundeinstellung und die Hintergründe dazu vermittelt Prof. Dr. Thomas Geisen im Seminar «Professionelle Grund­tätigkeiten ‹träumen›». Die Weiterbildung, die Ende August an der FHNW Soziale Arbeit stattfindet, richtet sich im Allgemeinen an Führungspersonen aller Branchen und behandelt Fragen wie «Welche alten und neuen Utopien und Visionen bewegen mich?» oder «Welches Arbeits- und Lebensprojekt soll mich künftig inspirieren?». Thomas Geisen hat dazu einige Fragen beantwortet:

 

Wollen Sie mit diesem Seminar die Leute dazu anregen, mehr zu träumen?

Prof. Dr. Thomas Geisen: Auf jeden Fall! Das Träumen gibt uns Kraft, und zwar nicht nur kurzfristig, sondern es hilft uns über den «kurzen und privaten Tag hinaus», wie es Ernst Bloch einmal ausgedrückt hat. Im Träumen zeigt sich eine Sehnsucht nach dem, was noch nicht ist. Das Träumen, diese eigenartige menschliche Tätigkeit, deren Ort und Zeit offenbar im Unbestimmten liegen – träumen können wir praktisch überall und zu jeder Zeit, es überfällt uns fast schon –, wird von Immanuel Kant zwischen Vernunft und Empfindung angesiedelt. Beim Traum handelt es sich für ihn um «ausgeheckte Bilder» und «gedachte Erscheinungen», die «als wahre Gegenstände die Sinne betrügen». Kant, dem es um Aufklärung geht, um die Grundlegung der menschlichen Vernunft, charakterisiert den Träumer daher als «Luftbaumeister». Bereits bei Aristoteles finden wir diese Unterscheidung, die von Kant aufgenommen wird: Im Wachen, im sinnlichen Zugang zur Welt entsteht eine «gemeinschaftliche Welt», im Träumen allerdings hat jeder seine eigene. In der Romantik wird dann das Träumen als Sehnsuchtsort wieder neu entdeckt und gegen die Rationalität der Aufklärung gewendet. Bei Bloch dann das Träumen als Ausgangspunkt, um eine revolutionäre, weltgestaltende und weltverändernde Kraft zu entwickeln. 

 

Plädieren Sie auch für mehr Fantasie in den Chefetagen?

Unbedingt! Denn bei der Fantasie handelt es sich um ein produktives Vermögen, um eine schöpferische Vorstellungskraft. Kein Unternehmen kann auf Dauer ohne dieses Vermögen Bestand haben. Das Träumen ist die Tätigkeit des Geistes, in der die Fantasie sich entfalten und Gestalt annehmen kann, sodass sich Erwartungen an Zukünftiges ausbilden können. Konkret heisst das, dass es sich bei der Fantasie um ein Moment innovativer menschlicher Tätigkeit handelt. Gerade in den aktuellen gesellschaftlichen und technologischen Transformationsprozessen, und vor allem auch im Hinblick auf die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Covid-19-Krisensituation, ist diese Fähigkeit für Unternehmen von grosser Bedeutung.

 

Eine Frage, die bearbeitet wird, lautet: «Wie wirkt sich mein Träumen bisher in meinem Berufs- und Lebensalltag aus?» Haben Sie für sich persönlich eine Antwort darauf?

Träume sind ja sehr flüchtig in ihrer Materialität. Wenn sie nicht festgehalten werden, gehen sie vielfach auch verloren. Träumen im Alltag ist für mich meist mit dieser Flüchtigkeit verbunden. Wenn etwa mit Blick auf neue berufliche Herausforderungen Erinnerungen an vergangene Ereignisse und Personen aufblitzen und im Traum die Möglichkeit zukünftigen Erlebens als Sehnsucht sichtbar wird, sind das immer eindrückliche Erfahrungen. Träume können dabei in der Vergangenheit bereits Angelegtes fortführen, aber auch vollständig Neues enthalten, das von der Zukunft her auf mich zukommt. Das sind nicht immer nur schöne oder gute Träume. Wir dürfen mit Blick auf unsere eigenen Träume nicht vergessen, dass es beim Träumen sowohl die helle als auch die dunkle Seite, den Alptraum, gibt.

 

Wenn wir den Bezug zur aktuellen Lage herstellen: Möchten Sie die Köpfe der Beteiligten auch etwas befreien? Im Moment herrscht ein Gefühl von Einengung, physisch wie psychisch. Für Träume bleibt wohl gerade nicht viel Platz.

Nun ja, gerade in der aktuellen Krisensituation zeigt sich, dass überall dort, wo der «Traum von einer Sache» lebendig ist, auch Lösungen gefunden werden können, wie mit dieser Krise gut umgegangen werden kann. Wir sehen das an ganz vielen Stellen, manchmal auch etwas versteckt, und wir müssen dort dann etwas genauer hinschauen. Probleme haben wir vor allem dort, wo Träume ausgeträumt sind und wo die Fantasie ihre Lebendigkeit verloren hat. Psychische Leiden können Ausdruck dieses Verlusts sein, von Resignation.

 

Zum Seminar:

https://www.fhnw.ch/de/weiterbildung/soziale-arbeit/9393053

 

Dieser Artikel erschien als Erstpublikation im Magazin INLINE vom Mai 2021.

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