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Auslandsemester mitten in der Pandemie

Anouk Kerkmeer
Studentin | HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich
  • 01.06.2021
  • 9 min
Ein Auslandsemester erweitert nicht nur den persönlichen und akademischen Horizont, die Begegnungen mit Menschen aus anderen Kulturen bereichern auch das Leben. So wirbt zumindest die HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich für ein Semester an einer Hochschule im Ausland. Doch wie sieht es aus, wenn nebst Reisebeschränkungen und Schutzmassnahmen plötzlich auch ganze Schulkonzepte umgestellt werden?

Mein Auslandsemester hätte am 1. März 2020 in Pristina, der Hauptstadt des Kosovos, starten sollen. Die Koffer waren gepackt, die Wohnung und der Job gekündigt und der Hund geimpft, denn ohne meine Hündin gehe ich nirgends hin. Zwei Tage vor der Abreise besprach ich mich ein letztes Mal mit meinem Verlobten, der voller Vorfreude im Kosovo auf mich wartete. Da wurde uns bewusst, eine Reise durch Italien werde wohl kaum möglich sein. Corona hatte zum ersten Mal zugeschlagen. Teile Italiens waren bereits im Lockdown und ein Flug kam für mich mit meiner Hündin nicht in Frage. Mit einer guten Portion Optimismus und Abenteuermut setzten wir uns am 27. Februar 2020 trotzdem in den Zug nach Zagreb. Wie es dort weitergehen würde, wussten wir noch nicht. Wir waren dennoch überzeugt, Corona würde in drei Wochen vorbei sein und wir würden mit einem Lächeln auf diese Reise zurückblicken.

Nach 12h Zugfahrt, 8h Autofahrt, 20min Taxifahrt und den letzten zwei Kilometer zu Fuss überquerten meine Hündin Heaven und ich endlich die Grenze zu Montenegro, wo mein Verlobter auf uns wartete. Erleichtert stiegen wir in sein Auto und freuten uns am nächsten Tag in Pristina anzukommen. Lange hatten wir nicht Zeit uns auszuruhen, denn bereits am nächsten Tag sollte der erste Termin für die Auslandstudenten an der Universität Universum stattfinden. Als ich am Termin erschien, wurde es bereits im Treppenhaus etwas suspekt. Nicht nur die Türen waren verschlossen, es war auch niemand da und wie sich später herausstellte, wusste auch niemand, dass ich in diesem Semester an der Universität eingeschrieben war. Die Ansprechpartnerin, die mich bis dahin bei der Organisation unterstützte, wurde vor zwei Wochen gekündigt und alle Unterlagen, welche ich vorlegte, waren ungültig. Selbst die geplanten Fächer wurden in diesem Semester nicht angeboten – erst recht nicht in Englisch. Manch einer möge daran gedacht haben das Semester abzubrechen, doch wie die HWZ so schön wirbt, im Auslandsemester geht es nicht nur um die akademische, sondern auch um die persönliche Weiterentwicklung. So kämpfte ich mich durch Bürokratie, Sprachbarrieren und Missverständnisse und durfte eine Klasse besuchen, die von einem Englisch sprechenden Dozenten geleitet wurde. Ich versuchte ihm meine Lage zu erklären und entschuldigte mich für die Umstände. Er wandte sich zu mir und meinte: "Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Sagen Sie mir nur, ob Sie die Semesterprüfung in Englisch oder Deutsch schreiben wollen." Meine erste Lektion: Während wir unseren Horizont erweitern, bringen sich andere selbst Deutsch bei, um für Perspektiven zu kämpfen.

 

Als Schweizerin bereitete mir das bürokratische Chaos der Schule Kopfschmerzen, aber eines organisierte der Kosovo vorbildlich: die Corona-Massnahmen. Die Pandemie erreichte das kleine Land erst einige Wochen später als die Schweiz, doch die Massnahmen wurden früher getroffen. So wurde auch die Schule in der ersten Woche geschlossen und auf Online-Unterricht umgestellt. Nur leider reichten die knappen, finanziellen Mittel der Universität und der Schüler nicht für die dafür benötigte Infrastruktur. So entschloss ich mich, mich dem Online-Unterricht der HWZ anzuschliessen und brach das Semester an der Universität Universum ab. Schade…

 

Zurück in die Schweiz zu reisen kam weiterhin nicht in Frage. Stattdessen widmete ich mich der persönlichen Weiterentwicklung in Bezug auf das Auslandsemester. Zu extremen Zeiten durften wir aufgrund der Corona-Massnahmen unsere Wohnung für nur 1.5h pro Tag verlassen. Eine hohe Busse und das knappe Entkommen eines 24-Stündigen Gefängnisaufenthalts waren die Konsequenzen unserer täglichen Flucht in die nahe gelegenen Wälder und Berge. Dass die Polizei so strikt und hart durchgreift war für mich Neuland. Doch die Stimmung in dieser Zeit ist kaum in Worte zu fassen. Es herrschte stets ein Miteinander, Solidarität und Brüderlichkeit. Für mich war es eine aussergewöhnliche Erfahrung und ich bin sehr dankbar, dass ich ein Teil davon sein durfte.

 

Zu guter Letzt standen auch wir finanziellen Herausforderungen aufgrund Corona gegenüber. Die Call Center meines Verlobten wurden geschlossen, die Mitarbeiter haben wir verloren und damit auch die Aufträge. Was sich als Fluch anbahnte, stellte sich als Segen heraus. Wir konnten ein neues Call Center von Grund auf neu aufbauen und ich durfte ein Team von sechs Mitarbeitern leiten. Als Frau keine einfache Aufgabe, denn die männlichen Mitarbeiter stellten nicht nur meine Kompetenzen auf eine harte Probe. Mit Hartnäckigkeit, Fairness und konsequentem Handeln anerkannte man mich schliesslich als Chefin. Meine zweite Lektion: Kenne deine Fähigkeiten und lass dir nichts anderes einreden.

 

Der Kosovo und ich

Der Kosovo hat mein Herz schon in den ersten Stunden während des ersten Besuches erobert. Von Pristina bis Prizren, nach Pëja, Mitrovica und Ferizaj - dieses Land birgt so manch schöne Orte. Sie sind echt, authentisch, arm aber auch reich, naturnah, warmherzig, freundlich und zuversichtlich. Sie haben mir einige wichtige Botschaften über das Leben vermittelt.

 

Es ist nicht immer so einfach wie es scheint: Mein Aufenthalt im Kosovo wurde oft belächelt. Insbesondere als ich beschloss auch in den schwierigen Zeiten der Pandemie im Kosovo zu bleiben. Wir erhielten keine staatliche Unterstützung und unsere Visum-Anträge für meinen Verlobten wurden alle aus willkürlichen Gründen vom Migrationsamt Zürich abgelehnt. Schnell kam die Frage auf, ob mein Verlobter kriminell sei. Ansonsten müsste er doch staatliche Unterstützung und ein Visum erhalten. Meine Antwort: "So einfach ist das nicht." Wir Schweizer sind es uns gewohnt, Regeln zu folgen um zu kriegen was wir begehren. Du bist in Not? Melde dich bei den Behörden. Du brauchst ein Visum für deinen Urlaub? Gib dein Pass im Reisebüro ab und du kriegst ihn mit dem gültigen Stempel innerhalb von zwei Wochen zurück. Wer auf Wiederstand stösst oder wem die Möglichkeiten verwehrt sind, mit dem stimmt etwas nicht. Heute bin ich der Meinung, dass dies eine sehr gefährliche, arrogante und naive Haltung ist - denn wie gesagt, so einfach ist die Welt nicht. Wir sollten unterstützen, anstatt verurteilen und wir sollten uns davor hüten, falsche Verallgemeinerungen zu verinnerlichen.

 

Privilegien zeigen sich in Möglichkeiten: Privilegiert zu sein, bedeutet nicht ein einfaches Leben zu haben. Es bedeutet bloss, manche Hindernisse nicht überwinden zu müssen. So reisen wir wie selbstverständlich um die ganze Welt, während andere nicht über die eigene Landesgrenze hinauskommen. Den Schweizer Pass in den Händen zu halten ist ein wertvolles Privileg, was wir nie unterschätzen dürfen. Doch es hört nicht an den Grenzen auf, denn wenn der Kampf geführt wurde und ein Kosovare es in die Schweiz schafft, so ist er von Rassismus und Diskriminierung betroffen. Stärker, als ich je gedacht hätte und dies hat enorme Auswirkungen. Selbst ich, die mit einem Kosovaren verlobt ist, bin heute ebenfalls von diesem Rassismus betroffen. Wenn auch in milder Form. Nicht davon betroffen zu sein und vieles mehr ist ein Privileg, und ein Privileg zu haben, bedeutet immer einen Schritt Vorsprung zu haben. Bevor wir verurteilen, dass ein Kosovare in der Schweiz als Reinigungskraft arbeitet, sollten wir uns überlegen, welchen Weg er oder sie zurückgelegt hat dafür. Welcher Kampf geführt wurde um überhaupt diese Stelle inne zu haben. Wohlmöglich ist die Reinigungskraft in der HWZ weitergekommen als der Absolvent des Masterstudiums.

 

Integration ist komplizierter als gedacht: Die Aussage "Ich habe nichts gegen Ausländer, solange sie sich an die Regeln halten und sich anpassen" habe ich leider auch schon ausgesprochen. Heute weiss ich es besser, denn Integration ist um ein Vielfaches komplizierter als das. Es ist ein schmaler Grad zwischen Anpassung und Wahren der persönlichen Prinzipien. Es ist ein Balanceakt zwischen Akzeptanz und Verurteilung. Es ist ein Zerren zwischen Herkunft und Wohnort. Persönlich bin ich an der Integration im Kosovo kläglich gescheitert. Ich hatte nur deutschsprachige Freunde, kaufte im Spar ein und wohnte in einer Gegend, in der ich eher auf andere Schweizer oder Deutsche traf. Ich setzte mich als emanzipierte Frau durch und forderte mein Recht auf Gleichberechtigung ein. Hört sich im ersten Moment heroisch an, doch was hat das mit sich anpassen und sich an die Regeln halten zu tun? Aus Prinzip ist es mir wichtig, dass ich bei einem Treffen gegrüsst werde und man mir die Hand gibt. Doch die Männer zeigten meinem Verlobten Respekt, indem sie es nicht taten. Wo, um Himmels Willen, ist hier die Grenze zwischen Integration und das Wahren persönlicher Prinzipien. Wie sehr darf ich Schweizerin sein, was ich nun einmal bin und wie stark muss ich mich anpassen? Ich ziehe meinen Hut vor jenen, die tagtäglich um diesen schmalen Grat tanzen müssen.

 

Heisst das jetzt Auslandsemester – ja oder nein?

Definitiv ja. Es war turbulent und herausfordernd auf jeder Ebene - emotional, persönlich und akademisch. Aber in erster Linie war es atemberaubend schön, spektakulär, berührend und lehrreich. Darum lege ich dir wärmstens ans Herz den Tab zu wechseln und "Auslandsemester HWZ" bei Google einzugeben. Nicht um in Bali einige schöne Tage am Strand zu verbringen oder in England die Englischkenntnisse zu verbessern. Auch nicht um den Horizont zu erweitern, sondern um dahinter zu blicken – Wer weiss, welche Welten sich dahinter verbergen und darauf warten von dir entdeckt zu werden. Ich wünsche von meiner Seite aus eine gute Reise.

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