
In der Schweiz leben ungefähr 85’000 Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Sie haben beispielsweise Schwierigkeiten damit, zu lernen, zu planen, zu argumentieren oder komplexe Informationen zu verstehen. Ihre Teilhabe an der Gesellschaft ist nicht selbstverständlich. So kritisiert die UNO die Schweiz für die mangelhafte Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in verschiedenen Lebensbereichen – darunter auch in der Bildung. Gerade in der Schule ist es wichtig, die Selbstständigkeit und damit auch die Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen mit kognitiven Beeinträchtigungen zu unterstützen. Dafür können digitale Tools hilfreich sein – doch das Ganze hat einen Haken.
«Es wird nicht viel in digitale Lösungen für Menschen mit Beeinträchtigungen investiert – es ist schlicht nicht lukrativ», erklärt Houssein Maatouk. «Und das, obwohl digitale Tools einen echten Mehrwert für diese Menschen bieten könnten.» Umso motivierter war der Absolvent des MAS Human Computer Interaction Design der OST, eine digitale Anwendung für Menschen zu entwickeln, die sonst wenig Beachtung finden.
Es wird nicht viel in digitale Lösungen für Menschen mit Beeinträchtigungen investiert – es ist schlicht nicht lukrativ. Und das, obwohl digitale Tools einen echten Mehrwert für diese Menschen bieten könnten.
Houssein Maatouk
Absolvent des MAS Human Computer Interaction Design an der OST – Ostschweizer Fachhochschule und Senior Frontend Software Engineer bei adesso Schweiz AG
Im Rahmen der Masterarbeit hatte er zusammen mit Laura Staudenmann und Simon Gloor, die ebenfalls den MAS absolvierten, die Möglichkeit dazu. Sie wollten eine Lösung entwickeln, die es Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen erlaubt, selbstständiger zu arbeiten, ihre Fähigkeiten zu verbessern und somit autonomer und selbstbestimmter zu werden. In der Stiftung Balm in Rapperswil-Jona fanden sie eine Praxispartnerin für ihre Vision. Der Fokus des Projektteams lag auf der Heilpädagogischen Schule und auf dem Werkatelier der Stiftung. Rund 90 Kinder und Jugendliche mit Behinderung werden in der Schule unterrichtet und gefördert. Im Werkatelier stellen 20 Personen handgefertigte Produkte her – von Gruss- und Glückwunschkarten über Textilhandwerk bis hin zu Deko-Objekten.
Um die Bedürfnisse der Stiftung Balm zu ergründen, besuchte das Projektteam den Kochunterricht und die Werkstätte, führte Interviews mit den Lehrpersonen und Betreuenden durch und sprach mit verschiedenen Fachpersonen. «Zu Beginn des Projekts wollten wir die Lehrpersonen und Betreuenden entlasten, doch dafür gab es gar kein Bedürfnis. Viel wichtiger war es, dass die Schülerinnen und Schüler selbst an etwas arbeiten, Entscheidungen treffen und eine Aufgabe erfolgreich abschliessen konnten», erzählt Laura Staudenmann. Somit war klar, in welche Richtung es gehen sollte.
Zu Beginn des Projekts wollten wir die Lehrpersonen und Betreuenden entlasten, doch dafür gab es gar kein Bedürfnis. Viel wichtiger war es, dass die Schülerinnen und Schüler selbst an etwas arbeiten, Entscheidungen treffen und eine Aufgabe erfolgreich abschliessen konnten.
Laura Staudenmann
Absolventin des MAS Human Computer Interaction Design an der OST – Ostschweizer Fachhochschule und Consultant bei APP Unternehmensberatung AG
Aus dem Projektziel entstand ein Video-Player namens «Easytube» – eine Tablet-App, auf der Schülerinnen und Schüler Video-Anleitungen für verschiedene Aufgaben finden. Darunter zum Beispiel Rezepte für einen Gurkensalat oder ein Müsli sowie Anleitungen für das Basteln einer Geburtstagskarte oder eines Plüschbären. Die Videos sind in kurze, klare Arbeitsschritte unterteilt. «Mit der App können die Schülerinnen und Schüler selbstständig in ihrem Tempo über längere Zeit an etwas arbeiten. Das bringt zusätzliche Abwechslung in ihren Alltag», erklärt Simon Gloor. «Zuerst hatten wir die Idee, dass die Lehrpersonen mit der App die Videos auch selbst filmen, schneiden und hochladen können. Doch der Aufwand sprengte den Rahmen der Masterarbeit.» Der Weg zum finalen Prototyp der App war für das Projektteam ohnehin eine Herausforderung.
Ausschnitt einer Rezept-Anleitung auf «Easytube» für ein Müsli:
«Wir waren von unserer Idee überzeugt, doch die Ernüchterung kam nach der Testung des ersten Prototyps», zeigt Houssein Maatouk auf. «Erst da stellten wir fest, wie verschieden die kognitiven Beeinträchtigungen der Schülerinnen und Schüler sind – von solchen, die Aufgaben bereits selbstständig erledigen können bis hin zu denen, die weder verbal kommunizieren noch Texte oder Zahlen verstehen können.» Klar war: Alle Testpersonen hatten Probleme mit der App.
Probleme hatten sie auch damit, dem Projektteam Feedback zu geben. «Weil wir oft keine Antworten auf unsere Fragen bekamen, mussten wir lernen, genau hinzuschauen und unsere eigenen Vorstellungen davon, wie man eine App benutzt, beiseitelegen.», erzählt Laura Staudenmann. Denn für die Schülerinnen und Schüler mit kognitiven Beeinträchtigungen war vieles an der App nicht intuitiv: Sie klickten zum Beispiel wild hin und her, übersprangen Schritte, verstanden die Reihenfolge nicht oder starteten die Videos schon gar nicht erst.
Das Projektteam überarbeitete den Prototyp: Sie entfernten alle Knöpfe ausser «Start» und «Stopp», damit die Schülerinnen und Schüler nicht mehr selbst navigieren mussten, und nahmen weitere Änderungen vor. Basierend auf einem Interview mit einem Fachexperten entschieden sie sich, beim dritten Prototyp auch Audio einzubauen. «Wir haben damit versucht, alle Bedürfnisse und Fähigkeitslevels zu berücksichtigen: visuell mit Zahlen, Text und Farben und auch mit dem Audio für die, die sich so besser konzentrieren können», erklärt Simon Gloor. Schlussendlich musste sich das Projektteam auf die Grundlagen fokussieren: «Easytube hat nur sehr wenige Funktionen und Knöpfe – aber alles funktioniert genau so, wie es soll. Jedes Detail wurde beachtet», erklärt Houssein Maatouk. Nach über 30 Tests der drei Prototypen folgte das grosse Erfolgserlebnis.
An der letzten Testung hat ein Schüler mit einer sehr ausgeprägten Beeinträchtigung teilgenommen. Er konnte Easytube selbstständig bedienen und die Aufgabe ohne Unterstützung ausführen. Das hätten wir nie für möglich gehalten.
Absolvent des MAS Human Computer Interaction Design an der OST – Ostschweizer Fachhochschule und Advanced UX Designer bei Zühlke Group
An der letzten Testung hat ein Schüler mit einer sehr ausgeprägten Beeinträchtigung teilgenommen. «Er konnte Easytube selbstständig bedienen und die Aufgabe ohne Unterstützung ausführen. Das hätten wir nie für möglich gehalten», erzählt Simon Gloor. «Ein wahres Erfolgserlebnis», bestätigen Houssein Maatouk und Laura Staudenmann. Erfolgserlebnisse hatten auch die Schülerinnen und Schüler, die an den Tests teilgenommen haben. Laut dem Projektteam war die Freude der Kinder und Jugendlichen nach jeder abgeschlossenen Aufgabe riesig. Auch die Stiftung Balm schätzte die digitale Lösung als «sehr nützlich und wertvoll» ein. Der Schulleiter war dankbar, dass sie sich diesem Thema angenommen haben, das sonst so wenig Aufmerksamkeit erhält.
«Easytube» ist ein Prototyp und noch nicht als App verfügbar. Die digitale Lösung für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung soll jedoch von einem nächsten Projektteam weiterentwickelt werden.
Damit technische Systeme wie Business-Software, Ticketautomaten oder chemische Analysegeräte am Markt erfolgreich sind, müssen sie sowohl den technischen Anforderungen als auch den Bedürfnissen der Benutzerinnen und Benutzer gerecht werden. Im MAS Human Computer Interaction Design lernen die Teilnehmenden, interaktive Systeme benutzerorientiert zu gestalten und erwerben interdisziplinäre Fähigkeiten aus den Gebieten Informatik, Visual Design und Psychologie.