KI-Philosophie-Serie: Im Bann der Netze

Jaron Matzinger
Student des Studiengangs Artificial Intelligence & Machine Learning, HSLU
  • 22.12.2022
  • 7 min
KI, Kunst und Kritik: Studierende schreiben Essays über philosophisch-ethische Fragen rund um die Künstliche Intelligenz (KI). Etwa darüber, dass ausgeklügelte Algorithmen unsere Selbstbestimmung schwächen. Mehr dazu in dieser siebten Folge unserer 8-teiligen KI-Philosophie-Serie.

1984 stellte das kalifornische Unternehmen Apple den Nachfolger von Lisa, den Macintosh (Mac), vor. Er war der erste Mikrocomputer mit grafischer Benutzeroberfläche, der in grösseren Stückzahlen produziert wurde. Der neue Mac wurde mit einem für damalige Verhältnisse wohl ungewöhnlichen Werbespot beworben. Der Spot zeigt eine graue Menschenmasse, die vor einem Bildschirm sitzt und einer Gehirnwäsche unterzogen wird. Auf einmal läuft eine bunt gekleidete Frau durch die triste Szenerie. Sie zertrümmert den Bildschirm mit einem Vorschlaghammer, um der Menge aus der Fremdbestimmung herauszuhelfen.

Das erste Macintosh-Modell von 1984 (Macintosh 128k). Der neue Mac war der erste Mikrocomputer mit grafischer Benutzeroberfläche, der in grösseren Stückzahlen produziert wurde.
Das erste Macintosh-Modell von 1984 (Macintosh 128k). Der neue Mac war der erste Mikrocomputer mit grafischer Benutzeroberfläche, der in grösseren Stückzahlen produziert wurde.

Apple spielte damit auf den 1949 erschienenen Roman «1984» von George Orwell an. Orwells Roman handelt von einem totalitären Staat, der seine Bevölkerung rund um die Uhr überwacht und ihr damit jegliche Selbstbestimmung raubt.

Das Gegenteil des Versprechens ist eingetreten

Trügerische Zukunftsträume: Apple versprach in diesem Werbespot, dass die damals neueste Technik den Menschen den Weg zu mehr Selbstbestimmung ebnen.

Heute, bald 40 Jahre später, sind der Macintosh und Apple aus der heutigen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken, sei es bei der Arbeit oder beim Medienkonsum in der Freizeit.

Die Statistikdatenbank statista.com zeigt in einer Umfrage eindrücklich, dass elektronische Geräte heutzutage nicht mehr wegzudenken sind. Sie untersuchte die persönliche Gerätenutzung für den Medienkonsum in Deutschland zwischen 2014 und 2021. Die Daten zeigen, dass im Jahr 2021 neun von zehn deutschen Nutzerinnen und Nutzern Medieninhalte über ihre Smartphones konsumierten.

Der von Reuters im Jahr 2020 veröffentlichte Digital News Report ergab ausserdem, dass rund ein Drittel der Befragten aus den USA, Grossbritannien, Deutschland, Spanien, Südkorea und Argentinien insbesondere soziale Netzwerke nutzten, um sich regelmässig über Ereignisse rund um den Ausbruch der Corona-Pandemie zu informieren. Bei den jungen Erwachsenen, die der sogenannten Generation Z angehören, lag die Nutzung bei knapp zwei Dritteln.

Zeit als Währung: Damit «bezahlen» die Nutzerinnen und Nutzer

Soziale Netzwerke sind digitale Plattformen, auf denen Menschen miteinander interagieren können. Zu den bekanntesten gehören Facebook, Instagram und TikTok. Nahezu alle sozialen Netzwerke sind für die Nutzerinnen und Nutzer «frei» zugänglich.

Denn die Unternehmen, die hinter den sozialen Netzwerken stehen, beziehen ihre Einnahmen aus einer anderen Quelle, nämlich aus der Werbung. Die Unternehmen sammeln alle Arten von Daten über ihre Nutzerinnen und Nutzer. Das können Likes, Kommentare, Suchergebnisse, Standortkoordinaten und vieles mehr sein. Die Daten werden verarbeitet und ausgewertet, um den Nutzenden auf sie zugeschnittene Werbeinhalte zu präsentieren.

Haben wir einen Vorschlaghammer in der Hand? Nein, vielmehr einen Bildschirm vor der Nase.

 

1984 ist Realität

Folglich überwachen soziale Netzwerke fortlaufend ihre Nutzerinnen und Nutzer, um die gewonnenen Daten gewinnbringend zu verwerten. Mit dieser dauernden Überwachung schaffen sie neue, beengende Strukturen. Die unabhängige gemeinnützige US-amerikanische Organisation HelpGuide erklärt, wie man in diesen «vicious cycle of unhealthy social media use» gerät.  

Sie zeigt auf, wie die übermässige Nutzung sozialer Medien einen negativen, sich selbst verstärkenden Kreislauf schafft. Dieser Teufelskreis sieht folgendermassen aus:

  1. Wenn man sich einsam, deprimiert, ängstlich oder gestresst fühlt, nutzt man soziale Medien häufiger, um Langeweile zu vertreiben oder um sich mit anderen verbunden zu fühlen.
  2. Eine häufigere Nutzung sozialer Medien verstärkt jedoch die Angst, etwas zu verpassen (FOMO). Sie schürt Gefühle der Unzulänglichkeit, Unzufriedenheit und Isolation.
  3. Diese Gefühle wirken sich wiederum negativ auf die Stimmung aus. Sie verschlimmern die Symptome von Depressionen, Angstzuständen und Stress.
  4. Diese sich verschlechternden Symptome führen dazu, dass man soziale Medien noch mehr nutzt. Dadurch setzt sich die Abwärtsspirale fort.

Im Werbespot von damals befreit eine junge Frau eine gebannte Menschenmasse mit Hilfe eines Vorschlaghammers aus beengten Strukturen. Doch wie das obige Beispiel zeigt, hat der Fortschritt im Bereich des Personal Computing nicht alle Probleme lösen können, sondern sie in die virtuelle Welt verlagert. Ich stelle fest: Statt uns einen Hammer in die Hand zu geben, hat uns Apple den Bildschirm vor die Nase gesetzt.

Frage in die Runde: Wie können wir verhindern, dass wir durch Technik unfreier werden? Bitte schreibe deinen Kommentar hier zuunterst in die Kommentarspalte.

Will KI zum Wohl der Menschheit einsetzen: Jaron Matzinger ist Student des Studiengangs Artificial Intelligence & Machine Learning. Für ihn ist klar, dass man sich als angehender AIML Engineer die Frage stellen muss, ob man in Zukunft selbst Teil des Problems sein oder etwas zum Wohl der Gesellschaft beitragen will. Ausgehend von dieser Frage ist es für ihn unabdingbar, sich während des Studiums intensiv mit Philosophie und Ethik zu beschäftigen.

KI-Philosophie-Serie: Das obenstehende Essay wurde ihm Rahmen des Bachelor-Studiengangs Artificial Intelligence & Machine Learning geschrieben. Es wurde geprüft, redaktionell aufbereitet und ist Teil unserer 8-teiligen Serie mit bestbenoteten Essays von Studierenden. Es war allen Verantwortlichen von Beginn an wichtig, dass der betreffende Studiengang die Implikation der Technik ernst nimmt. Daher lernen die Studierenden nicht nur, KI einzusetzen, sondern diese auch nachhaltig, sicher und ethisch verantwortbar umzusetzen. Als Basis dafür dient unter anderem ein Philosophie-Modul unter der Leitung von Peter A. Schmid und Orlando Budelacci. Die Hochschule Luzern setzt dabei auf Interdisziplinarität: Dieses Modul zeigt beispielhaft, wie sich drei Departemente – Informatik, Soziale Arbeit und Design & Kunst – fachübergreifend einem Zukunftsthema zuwenden.

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