«Ich habe im Lotto gewonnen»

Mit acht Jahren kam Ximena Florez aus Kolumbien in die Schweiz. Gut zwanzig Jahre später könnte sie kaum schweizerischer sein. Und sticht trotzdem hervor. Ihr spezieller Weg erzählt von Beharrlichkeit, Suchen, Finden – und vor allem von Freude.

Kaum steht der Videocall, sind wir auch schon mitten im Gespräch. Ximena Florez erzählt, wie sie über einen 1.-August-Anlass in ihrer Gemeinde in die Politik fand, und setzt bereits an, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. «Ach, ich dachte, wir seien bereits im Interview», sagt sie lachend, nachdem sie kurz unterbrochen wird. Es fällt einem leicht, ihr beim Erzählen zuzuhören. Die 29-Jährige ist gewissermassen eine Exotin. Sie hat die Matura gemacht und später ein sogenannt Praxisintegriertes Bachelorstudium (PiBS) an der ZHAW absolviert. Dieses Studium, das einen relevanten Anteil an Praktika beinhaltet, wurde speziell für Gymi-Abgänger:innen entworfen, die sich doch für den praktischen Weg mit FH-Studium entscheiden, allerdings nicht die nötige Arbeitserfahrung vorweisen können. Mit diesem Weg und ihrer Arbeitgeberin ist Ximena nun überglücklich. Warum alles rückblickend Sinn ergibt, erzählt sie hier.

 

Warum hast du dich eigentlich fĂĽr ein FH-Studium entschieden nach der Matura?

Ximena Florez: Ich habe ja zuerst ein Geomatik-Studium an der ETH begonnen, aber nach eineinhalb Jahren abgebrochen. Ich habe dort nur gelernt und hatte wenig Freizeit, ausserdem war es mir zu theoretisch. Ich bin einfach der praktische Typ.

 

Und wie bist du auf das PiBS-Studium gekommen?

Ich habe mich über die verbleibenden Optionen informiert, unter anderem auch an der ZHAW. Dort wurde natürlich auch die Möglichkeit des PiBS-Studiums erwähnt. Es war nicht ganz leicht, mich dafür zu entscheiden, da ich es zuerst als Abstieg empfand. Ich hatte mich bis dahin nicht stark mit dem praktischen Bildungsweg auseinandergesetzt. Auch für meine Eltern, die das duale Bildungssystem und die FH nicht kannten, gab es wenige Alternativen zu Matura und Universität.  

 

Was ist aus diesem GefĂĽhl des Abstiegs geworden?

Dies ist in kürzester Zeit verflogen. Vor allem als ich mein erstes Praktikum bei der SBB im Industriewerk in Olten gemacht habe. Da wusste ich: Hier bin ich am richtigen Ort. Es war eine Superzeit. 

 

Dein Lebenslauf zeigt, du hast schon frĂĽh immer verschiedene Jobs gemacht, unter anderem auch als Pizzakurierin. Hast du immer gerne angepackt?

Ja, ich habe immer gerne gearbeitet. Es fing damit an, dass ich die Kinder der Nachbarin beschäftigte, um diese zu entlasten. Während der Schulzeit gab ich Nachhilfe-Unterricht und später war ich Salsa-Tanzlehrerin. Seit 2016 bin ich bei meiner Gemeinde Stimmenzählerin, weshalb ich Mitglied bei den Jungfreisinnigen geworden bin. Ausserdem bin ich bei der Feuerwehr. Ich habe mir die Hobbys mit der Zeit schon auch so aus­gesucht, dass ich damit etwas dazuverdienen kann. 

 

Wie war das denn, mit acht Jahren in ein völlig fremdes Land zu kommen?

Meine Eltern haben Kolumbien vor allem für uns verlassen. Sie haben viel aufgegeben für meine Schwester und mich. Mein Vater ist Ingenieur und war bereits dort Mitarbeiter von ABB. Dann ergab sich die Möglichkeit, in die Schweiz zu kommen, weil hier gute Ingenieure benötigt wurden. So zogen wir von Bogotá nach Untersiggenthal – acht Millionen Einwohner  gegenüber achttausend. Und ich möchte hier nicht mehr weg. Abends um 23 Uhr alleine mit dem Velo nach Hause zu fahren, wäre in Bogotá völlig undenkbar.

 

Wie war der Kontrast zwischen dem Studium an der ZHAW und den Praktika?

Sehr gross. Aber er hat sehr geholfen, motivierter zu studieren, und ich konnte den Fokus anders setzen. Zum Beispiel beim Thema Normen: Einige Kollegen sahen hier einfach sehr trockenen Stoff. Durch das Praktikum hatte ich einen Bezug dazu, sah noch andere Facetten. Auch der Ausgleich war super: Ich habe entweder Vollzeit studiert oder Vollzeit gearbeitet, auch in den Sommermonaten. Ich habe beide Seiten gesehen, auch wenn es intensiv war und ich wenig Ferien hatte.

 

PiBS-Studierende sind an der FH so etwas wie Exot:innen. Hattest du ebenfalls diesen Eindruck? 

Ja, denn wir haben mit der einen Klasse angefangen, benötigten durch die Praktika aber länger und haben deshalb mit einer anderen Klasse abgeschlossen. Das war etwas speziell. Und es stand manchmal schon auch das Klischee im Raum, dass wir PiBSler zwar die Matura hätten, aber nicht wüssten, wie man arbeitet. Wir waren also vor allem aufgrund unseres gymnasialen Hintergrunds Exoten.

 

Du hattest deinen Berufseinstieg ja sozusagen bei der SBB. Wie war dieser rĂĽckblickend?

Hervorragend! Das Beste, was mir je passiert ist. Ich sage ja immer, dass ich im Lotto gewonnen habe. Ich wurde so gut aufgenommen, auch bei den Handwerkern im Industriewerk, wo es als Frau nicht immer leicht ist. Dort konnte ich sicher mit meiner Tätigkeit bei der Feuerwehr punkten. Ich bin zwar proaktiv, aber es wurde mir auch vieles ermöglicht. Bereits während des Studiums konnte ich in eine Festanstellung wechseln und war dort in der Führungsunterstützung eines Topkaders tätig. Heute bin ich nun Produktionsmanagerin und in dieser Funktion vollauf zufrieden.

 

Dein Lebenslauf liest sich ein bisschen wie eine Suche. Bist du nun angekommen?

Auf jeden Fall. Rückblickend bereue ich nichts. Vor fünf bis zehn Jahren hätte ich nie gedacht, dass es einmal das hier sein würde. Es war wirklich ein Suchen, auch innerhalb der SBB.

 

Aber du bist ja noch jung und die Entwicklungsaussichten sind bestens. Was sind die weiteren Ziele?

Für mich ist im Moment die Fachführung eines Bereichs ein Thema. Auch eine Kaderposition wäre natürlich interessant. Mir wurde bereits eine Stelle im Bereich der Personalführung angeboten. Doch es hätte fachlich nicht ganz gepasst. Bei der Feuerwehr bin ich ebenfalls im Kader. Ich denke, das liegt mir schon.

 

Dann ist sicher auch Weiterbildung ein Thema ...

Ich habe dieses Jahr einen CAS in Finanzmanagement an der FHNW absolviert. Finanzen interessieren mich und egal, wo man arbeitet, letztlich muss man sich damit auskennen, weil am Ende alles auf die Finanzen hinausläuft. 

 

Dieses Interview ist als Erstpublikation im INLINE November 2021 erschienen.

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