Eine bewegte Branche

Grosse Arbeitsbelastung, Applaus vom Balkon, eine Abstimmung zur «besten» Zeit, Hoffnung auf Besserung. Ein Dienstleistungszweig steht derzeit besonders im Rampenlicht. Derzeit stehen die Zeichen, dass es für die Pflegeberufe bergauf geht, besser denn je. Und obwohl die Spitäler noch mit Fachkräftemangel kämpfen, zeigt sich immerhin bei den Fachhochschulen ein klarer Trend. Dies bestätigt auch Sabine Vögele, die auf einer Intensivpflegestation am Universitätsspital Zürich arbeitet. Sie berichtet zudem eindrücklich aus ihrem Alltag während der letzten zwei Jahre.

Kaum ein Dienstleistungssektor stand in den letzten Jahren derart stark im Fokus wie die Gesundheitsberufe. Schon länger ist bekannt, dass wir auf einen problematischen Engpass beim medizinischen Personal zusteuern. Gerade in den Pflegeberufen. Und die Coronakrise hat nochmals drastisch vor Augen geführt, welch eminent wichtige Bedeutung diesen Mitarbeitenden zukommt, die in Spitälern und Heimen die Last schultern, damit das System nicht zusammenbricht. Unter diesen Umständen hat sich die Personalsituation nochmals verschärft, da die Fluktuation bei den Pflegefachkräften weiter zugenommen hat. Die bereits oft unbefriedigenden Arbeitsbedingungen haben unter dem Druck der Pandemie ausserdem weiter gelitten. Gegensteuer soll nun die Umsetzung der Pflegeinitiative geben, die das Stimmvolk im November an der Urne angenommen hat.

 

Zürich hat aufgestockt

Ein Teil der Pflegefachkräfte wird an Fachhochschulen aus- und weitergebildet. Hier ist bereits reagiert worden. Der Zürcher Regierungsrat beispielsweise hat 2019 die Anzahl Studienplätze in den Bachelorstudiengängen erhöht. So bietet die ZHAW Gesundheit seit dem letzten Jahr in Physiotherapie und Pflege je 150 Plätze an (vorher 126). In der Ergotherapie und für Hebammen sind es neu je 90 (vorher 78 respektive 66). Bei der Pflege wird das Maximum zwar nicht immer ganz erreicht, «aber gerade seit der Corona-Pandemie verzeichnen wir ein steigendes Interesse am Bachelorstudium Pflege», teilt José Santos, Leiter Kommunikation der ZHAW Gesundheit, mit. Die Physiotherapie hingegen erfreut sich seit mehreren Jahren ungebrochener Beliebtheit. So wies die ZHAW für das letzte Herbstsemester 385 Anmeldungen für die 150 zu vergebenden Plätze aus. 

Bei den konsekutiven Masterstudiengängen verzeichnet vor allem die Pflege ein beachtliches Wachstum und mehr als eine Verdoppelung gegenüber 2017. «Ein Grund dafür ist sicher, dass ein Master of Science (MSc) auf die Rolle der Advanced Practice in der spezialisierten Praxis, in Leadership-Positionen sowie in Forschung und Lehre vorbereitet», so Santos.

Bei den Weiterbildungen seien zwar nicht alle Angebote ausgebucht. Aber insbesondere in den letzten zwei Jahren verzeichnet die ZHAW auch dort einen markanten Zuwachs, wie sie auf Anfrage mitteilt.

 

Starker Anstieg auch bei Kalaidos

Einen starken Anstieg an Studierenden in der Pflege verzeichnet auch die Careum Hochschule für Gesundheit, die Teil der Kalaidos Fachhochschule ist. Wurden 2017 noch 48 Studierende im Bachelorstudiengang Nursing gezählt, stieg diese Zahl kontinuierlich und deutlich auf 94 im vergangenen Jahr. Ähnlich sieht der Zuwachs bei den Masterstudierenden aus: Diese Zahl stieg von 25 im Jahr 2017 auf 40 im 2021.

Leicht anders sehen die Zahlen in St. Gallen an der Fachhochschule OST aus. Beim Bachelorstudiengang in Pflege lag die Zahl der Studierenden im Herbst- semester 2017 bei 225, vier Jahre später hingegen bei 201 Studierenden. Gemäss Mitteilung der FH gibt es keine Obergrenze, es werden so viele Studierende aufgenommen, wie sich für das Studium anmelden. Bei den Masterstudierenden sind die Zahlen schwankender. 2017 waren es deren 38, 2021 absolvierten 37 Studierende den MSc, während es in den Jahren dazwischen über 40 und im Jahr 2019 gar deren 50 waren.

 

Deutlicher Anstieg auch in der Westschweiz

In der Westschweiz, wo der Königsweg in die Pflege­berufe via FH führt und nicht wie in der Deutschschweiz mehrheitlich über die Höheren Fachschulen, lässt sich in den letzten fünf Jahren ebenfalls ein klarer Zustrom ins Pflegestudium feststellen. Wie die HES-SO auf Anfrage mitteilt, hat die Zahl der an Westschweizer Fachhochschulen eingeschriebenen Bachelorstudierenden vom Herbst 2017 auf Herbst 2021 um knapp 200 zugenommen, nämlich von 2484 auf 2683. Wenn man den MSc in Pflege und Pflegewissenschaften (science de la santé) zusammennimmt, kommt man auf ein Wachstum im selben Zeitraum von 54 auf 73 Studierende.

Nebst den Pflegeberufen boomt auch in der Westschweiz die Ausbildung in der Physiotherapie: Im genannten Zeitraum stieg dort die Zahl der Bachelorstudierenden von 377 auf 481.

 

Doppelte Sicht: Studium und Intensivstation

Gerade die neuen Pflegefachkräfte werden in Zukunft benötigt, ist doch die Fluktuation in den Spitälern hoch und hat sich in der aktuellen Covid-Krise nochmals verschärft. Die Situation aus erster Hand kennt Sabine Vögele. Sie arbeitet seit sechs Jahren auf einer Intensivpflegestation (IPS) eines Zentrumsspitals. Ursprünglich hat die 33-Jährige die Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit (FaGe) gemacht, danach die Höhere Fachschule sowie das Nachdiplomstudium Intensivpflege. Derzeit absolviert sie den Bachelor of Science in Pflege an der ZHAW. «Eigentlich wollte ich nach dem Nachdiplomstudium keine Schule mehr sehen, doch nach einigen Jahren habe ich bemerkt, dass etwas Herausforderung guttun würde», sagt sie. Ausserdem arbeitet sie auf ihrer Station als Fachexpertin. «Dies bedingt einen FH-Abschluss, am besten einen Master.» 

Im Interview beschreibt sie die derzeitigen Herausforderungen im Arbeitsalltag und erzählt, wie sie ihr FH-Studium erlebt und was sie sich davon verspricht. 

 

Sabine, erkläre doch bitte kurz deinen Job.

Sabine Vögele: Ich arbeite zum grössten Teil normal am Bett. Dazu kommt meine Funktion als Fachexpertin von zehn Arbeitsprozenten, welche zwei Tage pro Monat für die Fachexpertise vorsieht.An diesen Tagen bin ich im Büro, überprüfe die Pflegedokumentation sowie stationsinterne Prozesse. Zusätzlich bin ich Ansprechperson bei fachlichen Fragen, nehme aktiv brennende Anliegen aus dem Team auf, begleite  Kolleg:innen bei Fragen und  gebe interne Fachweiterbildungen. Zum Job gehört auch, neue Informationen aufzunehmen und an das Team weiterzugeben. Ich agiere sozusagen als Bindeglied zwischen dem Team und den Pflegeexperten. 

 

Wie hast du die letzten knapp zwei Jahre erlebt?

Anstrengend. Ich habe mir die IPS selber ausgesucht, auch weil die Aufgaben hier komplex, interessant und herausfordernd sind. Ich scheue die harte Arbeit nicht, doch jetzt mit Covid ist es anders. Natürlich geht es auf der IPS oft um Leben und Tod, aber wie einem aktuell die Menschen durch Covid unter der Hand wegsterben, das zerrt. Erschwerend kommt die unangenehme Schutzkleidung hinzu. Man muss sich noch mehr konzentrieren, sich zum Beispiel nicht ins Gesicht zu fassen, während man schwitzt. Als in der zweiten und dritten Welle noch die ganze Station geschlossen war und wir ausschliesslich Covid-Patienten hatten, war es aufwendig, sich für eine kurze Pause aus der Station auszuschleusen. Das ist in der jetzigen Phase immerhin etwas besser. Wir haben Einzelkojen, auf die verschiedenen Intensivstationen verteilt, in denen wir die Covid-Patienten betreuen. Die Einzelzimmer machen es leichter, sich ein- und auszuschleusen. Dennoch bleibt die Anstrengung und die extreme Komplexität dieser Patienten, die weiterhin neu im Intensivsetting sind.

 

Wie viel Ferien hattest du seit Anfang 2020?

Da war ich zum Glück nie eingeschränkt. Ich hatte zudem das Glück, dass ich mein 10-Jahr-Dienstjubiläum hatte, sodass ich mir mein Dienstaltersgeschenk in Form von Ferien habe auszahlen lassen. Ich kann mich also nicht beschweren.

 

Hast du dich auch erholt? Man liest von anderen Mitarbeitenden im Spital, die sich kaum erholen, auch weil sie sich im Privaten isolieren in der ständigen Angst, andere anzustecken.

Angst, andere anzustecken, hatte ich nicht. Denn wir waren die am besten geschützten Personen während der Pandemie. Ich hatte jederzeit Vertrauen in das Schutzmaterial und meine Fähigkeit, korrekt und hygienisch zu arbeiten. Auch während der Wellen zeigte sich, dass sich unser Personal nicht im grossen Stil ansteckte. Trotzdem ist es schwierig, sich richtig zu erholen, da gerade während des Lockdowns und bei jeder Welle das Thema allgegenwärtig war. So hatten wir kaum noch Distanz zu unserer Arbeit. Während der Pandemie habe ich mich natürlich von Grossanlässen usw. ferngehalten, da ich das Ergebnis jeden Tag auf der IPS gesehen habe. Gleichzeitig brauche ich deutlich mehr Zeit, um nach der Arbeit herunterzufahren, da sie so intensiv ist. Oftmals waren die Ferien schon vorbei, bevor die eigentliche Erholung einsetzte.

 

Wie erlebst du das FH-Studium bisher?

Nun es ist speziell, da das Bachelorstudium gekürzt wurde. Wir müssen in kurzer Zeit extrem viel Stoff erlernen und bewältigen, das ist sehr anspruchsvoll. Weil das gekürzte Studium auch für die ZHAW neu ist, muss sich alles noch etwas einspielen. Vom Stoff her gibt es Bekanntes wie auch Neues. Spannend für mich sind beispielsweise Statistik und das Interpretieren von Forschungsergebnissen und Studien, was mir ganz neue Einblicke sowie Blickwinkel ermöglicht. Auch haben wir Zugang zu viel Literatur.

 

Wo siehst du im Spital Unterschiede zwischen FH-Ausgebildeten und jenen, die von der HF kommen?

Man muss unterscheiden. Fachleute, die schon sehr lange auf der Intensiv arbeiten, bringen sehr viel wertvolle Erfahrung mit, egal welche Ausbildung sie haben. Bei frisch Diplomierten kann man schon sagen, dass jene von der Fachhochschule anders argumentieren, sich anders ausdrücken, anders in ein Gespräch gehen und per se ihre Standpunkte wissenschaftlich untermauern können. Sie haben den wissenschaftlichen Hintergrund und können zum Beispiel eher mit Daten oder Literatur argumentieren. Man merkt, dass ihr Wissen fundiert ist und sie sich vermehrt mit Forschungsergebnissen auseinandergesetzt haben. Dies ist auch der Grund, weshalb ich mich für das FH-Studium entschieden habe.

 

Der Fachkräftemangel ist bekannt – in der Ausbildung wird entsprechend reagiert. Merkst du etwas davon an der FH? 

Ja, es haben sich im letzten Frühling sehr viele Leute angemeldet. Wir sind rund 60 Studierende. Und die Leute kommen aus den verschiedensten medizinischen Settings. Das ist spannend, da ich mich besser vernetzen kann. Dieser Zulauf hat mich überrascht. Was ich kritisch hinterfrage, ist, dass einem vom Nachdiplomstudium in Intensivpflege nichts an das Bachelorstudium angerechnet wird. Das ist auch bei anderen Studiengängen der Fall und hält auch viele davon ab, ein Bachelorstudium zu machen. Würde mehr angerechnet, würde dies auch mehr Leute motivieren, an die FH zu gehen.

 

Gibt es bei euch im Spital auch eine so grosse Fluktuation?

Lange Zeit war es bei mir auf der IPS sehr stabil. Dann kam Corona, einige gingen und viele haben ihr Pensum reduziert. Das Problem ist vor allem das fehlende Fachwissen. Wenn Leute, die schon Jahrzehnte dort sind und praktisch zum Inventar gehören, gehen, ist das ein grosser Verlust. Das merkt man. «Altes Wissen und Erfahrung» gehen verloren. Parallel dazu kommen junge Leute, die zwar gut ausgebildet sind, aber keine bis wenig Erfahrung mitbringen. Das haben wir gerade in der dritten Welle bemerkt. Bei der Betreuung einer Herz-Lungen-Maschine sind viel Fachwissen und Erfahrung gefragt, die junge, unerfahrene Mitarbeiter noch nicht haben. 

 

Du arbeitest in einer Dienstleistungsbranche: Fühlt sich das für dich auch so an? Oder ist es mehr?

Ich empfinde es ein Stück weit schon als Dienstleistung, aber auch als Berufung. Ich tue etwas für den Menschen und schaue, dass es ihm gut geht, da leiste ich einen Dienst. Aber beispielsweise im psychiatrischen oder intensivmedizinischen Setting muss man mit Herzblut dabei sein und somit ist es auch eine Berufung. Auf der Intensivstation muss man weitere Kompetenzen und Interessen mitbringen, wie zum Beispiel die Affinität zu Geräten oder das Handling von vielen Medikamenten. Auch das Zwischenmenschliche, der Kontakt mit den Angehörigen, ist eine Herausforderung. Man muss wissen, wie man mit den Menschen umgeht. Diesen Job macht man nicht, weil man einfach nichts Besseres weiss.

 

Kannst du diese Aufgaben im Moment noch unter dem Druck zufriedenstellend wahrnehmen?

Es kommt sehr auf den Tag an. Auch bei uns gibt es Tage, an denen es ruhiger ist und man mal Zeit hat, dem Patienten die Haare zu waschen. Das gibt einem auch etwas zurück. Doch meist ist es schon so, dass die Zeit fehlt. Wenn ich am Ende des Dienstes noch eine halbe Stunde länger bleibe, um zu dokumentieren, ist es nicht so dankbar. Und gerade mit den aufwendigen Covid-Patienten fällt vieles weg, was für Pflegende und Patienten eigentlich wichtig wäre: die Kontakte, der Austausch und andere kleine Dinge. Man macht oftmals nur noch das Nötigste, um das Leben zu erhalten. Dann ist der Patient nur noch eine Nummer. Sehr wichtig ist in diesen Zeiten ein gut funktionierendes Team. Wenn ich Dienste habe, bei denen ich an der Herz-Lungen-Maschine stehe und mich niemand mit genügend Erfahrung und der entsprechenden Kompetenz für eine Pause auslösen kann, wird es sehr herausfordernd.

 

Wird die Annahme der Pflegeinitiative deiner Meinung nach die Situation für Patienten wie auch Pflegende wie erhofft verbessern?

Ich habe schon grosse Hoffnung, dass sich jetzt endlich etwas ändert und es besser wird. Man muss damit einfach anfangen. Wir müssen einen Weg finden, damit Pflegende nicht schon nach wenigen Jahren den Beruf wieder verlassen. Es hilft nichts, wenn jede und jeder von uns 1000 Franken mehr Lohn erhält. Dies würde uns erst einmal freuen, die Probleme sind dadurch aber nicht gelöst. Natürlich spielt auch der Lohn eine gewisse Rolle, aber viel wichtiger sind die Arbeitsbedingungen. Wenn diese besser wären und auch die Wertschätzung für unsere Arbeit höher wäre, hätte man schon viel erreicht. Vor allem mehr Zeit zu haben für die Patienten, würde viel bringen. Auch das ist eine Form von Wertschätzung für unsere Arbeit. Dies war für mich ebenfalls ein Grund, weshalb ich auf die IPS gewechselt habe. Es ist zwar streng, doch man hat normalerweise einen bis maximal zwei Patienten, um die man sich kümmert, und nicht zehn oder 20. Es ist ein anderer Personalschlüssel. Ich glaube, es geht vielen Pflegenden darum, dass der Patient wieder im Fokus stehen soll und wir etwas Gutes tun können.

 

Dieser Artikel ist als Erstpublikation im INLINE, Ausgabe Februar 2022, erschienen. 

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